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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
der Redlichkeit und edlen Einfalt, von dem Gott umfassenden Vertrauen, das nur der Unschuld
eigen seyn kann! Spricht noch stärker vielleicht, als das Original, von heiterer Ruhe der See-
le, von väterlicher Güte, der es unmöglich ist, -- guter Gott! ich will nicht sagen, einen Sohn
zu erwürgen -- unmöglich, ihn nicht mit eigenem Blute vom Tode zu retten! -- -- zeigt uns eine
herzgute, empfindungsvolle, gerade, redliche Tochter und Schwester. Hast du jemals Betrüb-
niß, die schmachtet, die hart an Ohnmacht gränzt, doch nicht vollkommen Ohnmacht, je Betrüb-
niß, die lauter hülflose Liebe ist, gesehen, wie die auf den Vater sich lehnende trostlose Tochter --
Augenbraunen, Augen, der offne Mund, die Lage des Gesichts, der Hände -- Alles, alles sagt,
ruft: "Jch bin elender, als alle Menschen! Jst auch ein Schmerz, der meinem Schmerzen zu ver-
"gleichen sey?" -- Aber -- nun vergleiche mit diesem jammervollen schmachtenden Gesichte, des
ehrwürdigen Alten noch zehenmal redenderes Gesicht. Dort ist Weib -- hier Mann; dort Toch-
ter, hier Vater; Trost blickt noch aus dem müden, zerdrückten Herzen, herauf durch Aug' und
Mund in das trübe, nicht mehr sehende Aug' der untröstbaren Tochter. Abgearbeitet, ausge-
weint, -- beynahe bis zur Gefühllosigkeit durchjammert -- ist das Gesicht. Aber noch tiefe Ruhe,
unter Lasten von Leiden -- "Jch fürchte Gott, und weiß von keiner andern Furcht -- Jch hebe meine
"Augen in die Höhe -- woher mir Hülfe kommen wird! Meine Hülfe kommt vom Herrn, der den
"Himmel und die Erde gemacht hat. -- Laß die Fesseln mir lösen -- achte das Geklirr -- und das
"Tod verkündende Geräusch um uns her nicht! -- Jch hör' es nicht -- ich bin unschuldig! -- Du
"weißts; Jch weiß es; Gott weiß es. -- Sey stark! der stärkt mich, der mich kennt, und der mir
"den bittersten Kelch mit der Linken reicht -- reicht mit der Rechten mir unaussprechliche Kraft."
Mir ist, ich lese dieses alles hell und klar auf dem huld- und unschuld- kraft- und lastvollen Gesichte
des ehrlichen Alten. Jch sehe den Vater, der immer Vater war -- ich sehe den Mann, dessen letz-
tes Wort auf dem Rade seyn kann: "O Gott! vergieb meinen Richtern. Jch bin unschuldig."
Den Mann, der es werth war, die schrecklichsten Leiden unschuldig zu tragen und für viele tausend
künftig Unschuldige das Opfer zu werden; -- ein Opfer -- das uns, in jener Welt, herrlich ge-
schmückt entgegen kommen wird -- in einer schönern Gestalt, als kein Pinsel der Erde mahlen, kein
Genius des Dichters beschreiben kann.

Dreyzehnte
Phys. Fragm. I. Versuch. Q

der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
der Redlichkeit und edlen Einfalt, von dem Gott umfaſſenden Vertrauen, das nur der Unſchuld
eigen ſeyn kann! Spricht noch ſtaͤrker vielleicht, als das Original, von heiterer Ruhe der See-
le, von vaͤterlicher Guͤte, der es unmoͤglich iſt, — guter Gott! ich will nicht ſagen, einen Sohn
zu erwuͤrgen — unmoͤglich, ihn nicht mit eigenem Blute vom Tode zu retten! — — zeigt uns eine
herzgute, empfindungsvolle, gerade, redliche Tochter und Schweſter. Haſt du jemals Betruͤb-
niß, die ſchmachtet, die hart an Ohnmacht graͤnzt, doch nicht vollkommen Ohnmacht, je Betruͤb-
niß, die lauter huͤlfloſe Liebe iſt, geſehen, wie die auf den Vater ſich lehnende troſtloſe Tochter —
Augenbraunen, Augen, der offne Mund, die Lage des Geſichts, der Haͤnde — Alles, alles ſagt,
ruft: „Jch bin elender, als alle Menſchen! Jſt auch ein Schmerz, der meinem Schmerzen zu ver-
„gleichen ſey?“ — Aber — nun vergleiche mit dieſem jammervollen ſchmachtenden Geſichte, des
ehrwuͤrdigen Alten noch zehenmal redenderes Geſicht. Dort iſt Weib — hier Mann; dort Toch-
ter, hier Vater; Troſt blickt noch aus dem muͤden, zerdruͤckten Herzen, herauf durch Aug' und
Mund in das truͤbe, nicht mehr ſehende Aug' der untroͤſtbaren Tochter. Abgearbeitet, ausge-
weint, — beynahe bis zur Gefuͤhlloſigkeit durchjammert — iſt das Geſicht. Aber noch tiefe Ruhe,
unter Laſten von Leiden — „Jch fuͤrchte Gott, und weiß von keiner andern Furcht — Jch hebe meine
„Augen in die Hoͤhe — woher mir Huͤlfe kommen wird! Meine Huͤlfe kommt vom Herrn, der den
„Himmel und die Erde gemacht hat. — Laß die Feſſeln mir loͤſen — achte das Geklirr — und das
„Tod verkuͤndende Geraͤuſch um uns her nicht! — Jch hoͤr' es nicht — ich bin unſchuldig! — Du
„weißts; Jch weiß es; Gott weiß es. — Sey ſtark! der ſtaͤrkt mich, der mich kennt, und der mir
„den bitterſten Kelch mit der Linken reicht — reicht mit der Rechten mir unausſprechliche Kraft.“
Mir iſt, ich leſe dieſes alles hell und klar auf dem huld- und unſchuld- kraft- und laſtvollen Geſichte
des ehrlichen Alten. Jch ſehe den Vater, der immer Vater war — ich ſehe den Mann, deſſen letz-
tes Wort auf dem Rade ſeyn kann: „O Gott! vergieb meinen Richtern. Jch bin unſchuldig.“
Den Mann, der es werth war, die ſchrecklichſten Leiden unſchuldig zu tragen und fuͤr viele tauſend
kuͤnftig Unſchuldige das Opfer zu werden; — ein Opfer — das uns, in jener Welt, herrlich ge-
ſchmuͤckt entgegen kommen wird — in einer ſchoͤnern Geſtalt, als kein Pinſel der Erde mahlen, kein
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[113/0163] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. der Redlichkeit und edlen Einfalt, von dem Gott umfaſſenden Vertrauen, das nur der Unſchuld eigen ſeyn kann! Spricht noch ſtaͤrker vielleicht, als das Original, von heiterer Ruhe der See- le, von vaͤterlicher Guͤte, der es unmoͤglich iſt, — guter Gott! ich will nicht ſagen, einen Sohn zu erwuͤrgen — unmoͤglich, ihn nicht mit eigenem Blute vom Tode zu retten! — — zeigt uns eine herzgute, empfindungsvolle, gerade, redliche Tochter und Schweſter. Haſt du jemals Betruͤb- niß, die ſchmachtet, die hart an Ohnmacht graͤnzt, doch nicht vollkommen Ohnmacht, je Betruͤb- niß, die lauter huͤlfloſe Liebe iſt, geſehen, wie die auf den Vater ſich lehnende troſtloſe Tochter — Augenbraunen, Augen, der offne Mund, die Lage des Geſichts, der Haͤnde — Alles, alles ſagt, ruft: „Jch bin elender, als alle Menſchen! Jſt auch ein Schmerz, der meinem Schmerzen zu ver- „gleichen ſey?“ — Aber — nun vergleiche mit dieſem jammervollen ſchmachtenden Geſichte, des ehrwuͤrdigen Alten noch zehenmal redenderes Geſicht. Dort iſt Weib — hier Mann; dort Toch- ter, hier Vater; Troſt blickt noch aus dem muͤden, zerdruͤckten Herzen, herauf durch Aug' und Mund in das truͤbe, nicht mehr ſehende Aug' der untroͤſtbaren Tochter. Abgearbeitet, ausge- weint, — beynahe bis zur Gefuͤhlloſigkeit durchjammert — iſt das Geſicht. Aber noch tiefe Ruhe, unter Laſten von Leiden — „Jch fuͤrchte Gott, und weiß von keiner andern Furcht — Jch hebe meine „Augen in die Hoͤhe — woher mir Huͤlfe kommen wird! Meine Huͤlfe kommt vom Herrn, der den „Himmel und die Erde gemacht hat. — Laß die Feſſeln mir loͤſen — achte das Geklirr — und das „Tod verkuͤndende Geraͤuſch um uns her nicht! — Jch hoͤr' es nicht — ich bin unſchuldig! — Du „weißts; Jch weiß es; Gott weiß es. — Sey ſtark! der ſtaͤrkt mich, der mich kennt, und der mir „den bitterſten Kelch mit der Linken reicht — reicht mit der Rechten mir unausſprechliche Kraft.“ Mir iſt, ich leſe dieſes alles hell und klar auf dem huld- und unſchuld- kraft- und laſtvollen Geſichte des ehrlichen Alten. Jch ſehe den Vater, der immer Vater war — ich ſehe den Mann, deſſen letz- tes Wort auf dem Rade ſeyn kann: „O Gott! vergieb meinen Richtern. Jch bin unſchuldig.“ Den Mann, der es werth war, die ſchrecklichſten Leiden unſchuldig zu tragen und fuͤr viele tauſend kuͤnftig Unſchuldige das Opfer zu werden; — ein Opfer — das uns, in jener Welt, herrlich ge- ſchmuͤckt entgegen kommen wird — in einer ſchoͤnern Geſtalt, als kein Pinſel der Erde mahlen, kein Genius des Dichters beſchreiben kann. Dreyzehnte Phyſ. Fragm. I. Verſuch. Q

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/163>, abgerufen am 25.04.2024.