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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Fehlschlüssen des Physiognomisten.
Freylich giebt der keinem Unwürdigen, der überall Keinem giebt -- und freylich kann der dann
auch mit Grunde viel von seiner Klugheit sagen, die sich so leicht nicht betrügen läßt. Wer nie
urtheilt, wird freylich auch niemals falsch urtheilen. Der Physiognomist urtheilt öfter als der,
so die Physiognomik verlacht -- und darum fehlt er auch öfter, als der, der gar kein phy-
siognomisches Urtheil fällt.

Wie der Geizige den Großmüthigen beurtheilt, so der Spötter der Physiognomik den
Physiognomisten. "Alle Wohlthaten des Großmüthigen, sagt der Geizige, sind übel ange-
"wandt" -- und der Antiphysiognomist -- "alle Urtheile des Physiognomisten sind falsch."

Und welches günstige Urtheil des gutherzigen Physiognomisten kann nicht als falsch er-
kläret werden? Es ist nicht ein einziger Mensch, so weise, so klug, so rechtschaffen, so großmü-
thig und erhaben er immer seyn mag, der nicht in sich die Wurzel aller möglichen Fehler und
Unvollkommenheiten und Laster habe -- oder mit andern Worten, -- dessen edle Triebe, des-
sen Fähigkeiten, dessen Anlage -- nicht bisweilen ausgleiten, überwachsen, oder auf eine un-
rechte Weise angewandt werden können. --

Jhr sehet einen sanften Mann -- der zehenmal schweigt, wenn er zehenmal zum Zorne
gereizt wird, der vielleicht gar nie für sich, nie deswegen zürnt, weil Er beleidigt wird --
Der Physiognomist durchschaut sein ganzes edles starkes Herz -- Er sagt euch auf den ersten
Blick -- "Die liebenswürdigste die unüberwindlichste Sanftmuth" -- Jhr schweigt -- oder
lacht -- oder geht hin und sagt: "Welch ein Physiognomist! Wie hab ich den Mann im
"Zorne gesehen!" Wenn hast du ihn im Zorne gesehen? Als man einen seiner Freunde miß-
kannte? -- "Ja! Er war außer sich, seinen Freund zu vertheidigen. -- Beweises genug, daß
die Physiognomik ein Traum, und der Physiognomist ein Träumer sey" -- Und wer hat denn
Recht? und wer macht den Fehlschluß? -- Der weiseste Mann kann etwa eine Thorheit sa-
gen -- Der Physiognomist achtet dessen nicht, weiß es und spricht mit Ehrfurcht; "Welch
"ein außerordentlich kluger Mann!" -- Und ihr lacht über ihn, denn ihr habt den Klugen
eine Thorheit sagen gehört? -- Wer macht den Fehlschluß? Der Physiognomist urtheilt nicht
blos aus einzelnen, oft auch nicht einmal aus mehreren Handlungen -- Er beurtheilt auch als
Physiognomist -- nicht die Handlungen, er beobachtet die Anlagen, den Character, die

Grund-
Phys. Fragm. I. Versuch. T

Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
Freylich giebt der keinem Unwuͤrdigen, der uͤberall Keinem giebt — und freylich kann der dann
auch mit Grunde viel von ſeiner Klugheit ſagen, die ſich ſo leicht nicht betruͤgen laͤßt. Wer nie
urtheilt, wird freylich auch niemals falſch urtheilen. Der Phyſiognomiſt urtheilt oͤfter als der,
ſo die Phyſiognomik verlacht — und darum fehlt er auch oͤfter, als der, der gar kein phy-
ſiognomiſches Urtheil faͤllt.

Wie der Geizige den Großmuͤthigen beurtheilt, ſo der Spoͤtter der Phyſiognomik den
Phyſiognomiſten. „Alle Wohlthaten des Großmuͤthigen, ſagt der Geizige, ſind uͤbel ange-
„wandt“ — und der Antiphyſiognomiſt — „alle Urtheile des Phyſiognomiſten ſind falſch.“

Und welches guͤnſtige Urtheil des gutherzigen Phyſiognomiſten kann nicht als falſch er-
klaͤret werden? Es iſt nicht ein einziger Menſch, ſo weiſe, ſo klug, ſo rechtſchaffen, ſo großmuͤ-
thig und erhaben er immer ſeyn mag, der nicht in ſich die Wurzel aller moͤglichen Fehler und
Unvollkommenheiten und Laſter habe — oder mit andern Worten, — deſſen edle Triebe, deſ-
ſen Faͤhigkeiten, deſſen Anlage — nicht bisweilen ausgleiten, uͤberwachſen, oder auf eine un-
rechte Weiſe angewandt werden koͤnnen. —

Jhr ſehet einen ſanften Mann — der zehenmal ſchweigt, wenn er zehenmal zum Zorne
gereizt wird, der vielleicht gar nie fuͤr ſich, nie deswegen zuͤrnt, weil Er beleidigt wird —
Der Phyſiognomiſt durchſchaut ſein ganzes edles ſtarkes Herz — Er ſagt euch auf den erſten
Blick — „Die liebenswuͤrdigſte die unuͤberwindlichſte Sanftmuth“ — Jhr ſchweigt — oder
lacht — oder geht hin und ſagt: „Welch ein Phyſiognomiſt! Wie hab ich den Mann im
„Zorne geſehen!“ Wenn haſt du ihn im Zorne geſehen? Als man einen ſeiner Freunde miß-
kannte? — „Ja! Er war außer ſich, ſeinen Freund zu vertheidigen. — Beweiſes genug, daß
die Phyſiognomik ein Traum, und der Phyſiognomiſt ein Traͤumer ſey“ — Und wer hat denn
Recht? und wer macht den Fehlſchluß? — Der weiſeſte Mann kann etwa eine Thorheit ſa-
gen — Der Phyſiognomiſt achtet deſſen nicht, weiß es und ſpricht mit Ehrfurcht; „Welch
„ein außerordentlich kluger Mann!“ — Und ihr lacht uͤber ihn, denn ihr habt den Klugen
eine Thorheit ſagen gehoͤrt? — Wer macht den Fehlſchluß? Der Phyſiognomiſt urtheilt nicht
blos aus einzelnen, oft auch nicht einmal aus mehreren Handlungen — Er beurtheilt auch als
Phyſiognomiſt — nicht die Handlungen, er beobachtet die Anlagen, den Character, die

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[137/0205] Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten. Freylich giebt der keinem Unwuͤrdigen, der uͤberall Keinem giebt — und freylich kann der dann auch mit Grunde viel von ſeiner Klugheit ſagen, die ſich ſo leicht nicht betruͤgen laͤßt. Wer nie urtheilt, wird freylich auch niemals falſch urtheilen. Der Phyſiognomiſt urtheilt oͤfter als der, ſo die Phyſiognomik verlacht — und darum fehlt er auch oͤfter, als der, der gar kein phy- ſiognomiſches Urtheil faͤllt. Wie der Geizige den Großmuͤthigen beurtheilt, ſo der Spoͤtter der Phyſiognomik den Phyſiognomiſten. „Alle Wohlthaten des Großmuͤthigen, ſagt der Geizige, ſind uͤbel ange- „wandt“ — und der Antiphyſiognomiſt — „alle Urtheile des Phyſiognomiſten ſind falſch.“ Und welches guͤnſtige Urtheil des gutherzigen Phyſiognomiſten kann nicht als falſch er- klaͤret werden? Es iſt nicht ein einziger Menſch, ſo weiſe, ſo klug, ſo rechtſchaffen, ſo großmuͤ- thig und erhaben er immer ſeyn mag, der nicht in ſich die Wurzel aller moͤglichen Fehler und Unvollkommenheiten und Laſter habe — oder mit andern Worten, — deſſen edle Triebe, deſ- ſen Faͤhigkeiten, deſſen Anlage — nicht bisweilen ausgleiten, uͤberwachſen, oder auf eine un- rechte Weiſe angewandt werden koͤnnen. — Jhr ſehet einen ſanften Mann — der zehenmal ſchweigt, wenn er zehenmal zum Zorne gereizt wird, der vielleicht gar nie fuͤr ſich, nie deswegen zuͤrnt, weil Er beleidigt wird — Der Phyſiognomiſt durchſchaut ſein ganzes edles ſtarkes Herz — Er ſagt euch auf den erſten Blick — „Die liebenswuͤrdigſte die unuͤberwindlichſte Sanftmuth“ — Jhr ſchweigt — oder lacht — oder geht hin und ſagt: „Welch ein Phyſiognomiſt! Wie hab ich den Mann im „Zorne geſehen!“ Wenn haſt du ihn im Zorne geſehen? Als man einen ſeiner Freunde miß- kannte? — „Ja! Er war außer ſich, ſeinen Freund zu vertheidigen. — Beweiſes genug, daß die Phyſiognomik ein Traum, und der Phyſiognomiſt ein Traͤumer ſey“ — Und wer hat denn Recht? und wer macht den Fehlſchluß? — Der weiſeſte Mann kann etwa eine Thorheit ſa- gen — Der Phyſiognomiſt achtet deſſen nicht, weiß es und ſpricht mit Ehrfurcht; „Welch „ein außerordentlich kluger Mann!“ — Und ihr lacht uͤber ihn, denn ihr habt den Klugen eine Thorheit ſagen gehoͤrt? — Wer macht den Fehlſchluß? Der Phyſiognomiſt urtheilt nicht blos aus einzelnen, oft auch nicht einmal aus mehreren Handlungen — Er beurtheilt auch als Phyſiognomiſt — nicht die Handlungen, er beobachtet die Anlagen, den Character, die Grund- Phyſ. Fragm. I. Verſuch. T

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/205>, abgerufen am 19.04.2024.