Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.bey der Physiognomik. behandelt, ohne seine Behandelnsart nach den Modifikationen der Krankheit im gegebenen Patien-ten zu modificiren. Soll denn aber deswegen gar keine Klassifikation der Krankheiten gemacht werden? Giebt es um deswillen nicht Krankheiten, die einander ähnlicher sind, als andere? die hiemit näher zusammengehören? Mithin in Eine Klasse gethan werden? Folglich auch klassifische Vorschriften ihrer Behandlung empfangen mögen? etc. Ganz Recht haben die, und ich fühle die Gerechtigkeit ihrer Klage tief in der Seele, die Alles wahr! Alles recht! Nur damit nicht alle Abstraktion, nicht alle Klassifikation für "Daß eigentlich alle, alle, alle unsre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klas- So viel ist also doch wenigstens gewiß und sonnenklar, daß der Physiognomik um kein Här- Man U 3
bey der Phyſiognomik. behandelt, ohne ſeine Behandelnsart nach den Modifikationen der Krankheit im gegebenen Patien-ten zu modificiren. Soll denn aber deswegen gar keine Klaſſifikation der Krankheiten gemacht werden? Giebt es um deswillen nicht Krankheiten, die einander aͤhnlicher ſind, als andere? die hiemit naͤher zuſammengehoͤren? Mithin in Eine Klaſſe gethan werden? Folglich auch klaſſifiſche Vorſchriften ihrer Behandlung empfangen moͤgen? ꝛc. Ganz Recht haben die, und ich fuͤhle die Gerechtigkeit ihrer Klage tief in der Seele, die Alles wahr! Alles recht! Nur damit nicht alle Abſtraktion, nicht alle Klaſſifikation fuͤr „Daß eigentlich alle, alle, alle unſre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klaſ- So viel iſt alſo doch wenigſtens gewiß und ſonnenklar, daß der Phyſiognomik um kein Haͤr- Man U 3
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bey der Phyſiognomik.
behandelt, ohne ſeine Behandelnsart nach den Modifikationen der Krankheit im gegebenen Patien-
ten zu modificiren. Soll denn aber deswegen gar keine Klaſſifikation der Krankheiten gemacht
werden? Giebt es um deswillen nicht Krankheiten, die einander aͤhnlicher ſind, als andere? die
hiemit naͤher zuſammengehoͤren? Mithin in Eine Klaſſe gethan werden? Folglich auch klaſſifiſche
Vorſchriften ihrer Behandlung empfangen moͤgen? ꝛc.
Ganz Recht haben die, und ich fuͤhle die Gerechtigkeit ihrer Klage tief in der Seele, die
da ſagen, daß das Abſtrahiren und Klaſſificiren, und das Bauen und Thuͤrmen auf dieſe klaſſifi-
cirten und abſtrahirten Begriffe und daraus geformten Saͤtze in allen Wiſſenſchaften den groͤßten
Schaden anrichte, und den menſchlichen Geiſt hemme und beſchraͤnke, ihn tauſendmal irre fuͤhre,
ihn von der unendlich wichtigen Beobachtung der durchaus, in allem und jedem, individuellen
Natur, der einzigen Quelle aller Wahrheit, und der wahren Nahrung alles Genies abfuͤhre, weit,
weit abfuͤhre —
Alles wahr! Alles recht! Nur damit nicht alle Abſtraktion, nicht alle Klaſſifikation fuͤr
unrichtig und unwahr, fuͤr ſchaͤdlich ausgeſchrien! Wer denn auch nicht ſieht, daß die Wahrheit
auch hier abermals in der Mitte liegt; wer denn auch nicht ſieht, daß unſer Abſtrahiren und Klaſ-
ſificiren, mit aller der Portion unvermeidlichen Nachtheils, den es mit ſich fuͤhren mag, doch hin-
wiederum das unentbehrlichſte Ding von der Welt iſt — und das nuͤtzlichſte — dem mag ichs
hier nicht beweiſen. Die Materie beduͤrfte einer eignen philoſophiſchen Behandlung, in unſrer Zeit
beſonders. Nur dieſe einzige, ſchon mit einem Wink angeregte, hoͤchſtwichtigſte allgemeine philoſo-
phiſche Anmerkung moͤcht' ich bey dieſer Gelegenheit allen nachdenkenden Leſern wichtig machen.
„Daß eigentlich alle, alle, alle unſre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klaſ-
„ſifikationen, nichts als Zuſammenhaltung und Vorweiſung der Aehnlichkeit einer unbekanntern
„Sache mit einer bekanntern ſind.“
So viel iſt alſo doch wenigſtens gewiß und ſonnenklar, daß der Phyſiognomik um kein Haͤr-
chen eher vorgeworfen werden kann: „Man koͤnne wegen individueller Verſchiedenheit nicht klaſſifi-
„ciren, nicht abſtrahiren, mithin die Sache gar nicht wiſſenſchaftlich behandlen“ — dieß, ſag' ich,
kann der Phyſiognomik mit dem geringſten Recht, um kein Haͤrchen mehr vorgeworfen werden, als
allen andern Wiſſenſchaften in der Welt.
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