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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der Physiognomik.
matischen, aller Nationen und Zeitalter geben kann -- welche Nachtheile! -- Und dennoch ist bey-
nahe kein Tag, der mir nicht alte Beobachtungen bestätigt oder neue zuführt.

Wer nur die mindeste Fertigkeit hat, zu beobachten und zu vergleichen, wer nur einmal
auf einem Wege ist, den die Natur selbst ihm vorzeichnet, der wird, wenn ihm auch noch meh-
rere Kenntnisse fehlen sollten als mir, jeden Tag mitten unter alle dem Heere von Schwierigkei-
ten, womit er sich freylich unaufhörlich umringt sehen wird, dennoch sehr leicht einige Schritte
weiter gehen können.

Die Menschen sind doch immer vor unsern Augen -- auch in der kleinsten Reichsstadt ein
steter Ab- und Zufluß von unzähligen; Menschen des verschiedensten, des entgegengesetztesten Cha-
racters; unter diesen viele, deren Character uns, ohne Rücksicht auf die Physiognomie, bekannt
sind; von denen wir gewiß wissen: sie sind gütig, sind hart; sind leichtsinnig, sind argwöhnisch;
sind verständig, sind dumm; sind mittelmäßig, sind schwach: Menschen, deren Gesichter eben so
verschieden sind, als ihre Character, und deren Gesichtsverschiedenheiten sich eben so wohl bestimmen,
angeben, beschreiben, oder zeichnen lassen, als die Verschiedenheit ihrer uns sonst bekannten Cha-
racter sich angeben und bestimmen läßt.

Täglich erfahren wir die Menschen in der Nähe: Jhre Angelegenheiten verweben und stos-
sen sich mit den unsrigen. Wie sie immer sich verstellen mögen; die Leidenschaft stößt ihnen nur
allzuoft die Larve vom Gesicht, und zeigt uns, wenigstens blitzweise, ihre wahre Gestalt, oder doch
eine Seite derselben.

Und dann, sollte die Natur ihre Sprache dem Ohr und Auge des Menschen so ganz un-
verständlich, oder so gar schwer gemacht haben? Jhm Aug und Ohr, Gefühl, Nerven, innern
Sinn gegeben haben, und selbst die Sprache der Oberflächen ihm so unverstehbar, so kaum erforsch-
bar gemacht haben? Sie, die die Töne fürs Ohr, das Ohr für die Töne gemacht hat? Sie, die
den Menschen so bald sprechen, und die Sprache verstehen lehrt? Sie, die Licht fürs Auge, und
das Auge fürs Licht schuf, sollte unzählige verschiedene Gestalten und Ausdrücke unsichtbarer Anla-
gen, Kräfte, Neigungen, Leidenschaften, gebildet haben -- dem Menschen Sinn und Trieb und
Gefühl, die sich offenbar darauf beziehen, gegeben -- und bey allen diesen ihren mächtigen Rei-
zungen -- es ihm unmöglich gemacht haben, seinen Wissensdurst auch in dieser Absicht zu

befrie-
Phys. Fragm. I. Versuch. X

der Phyſiognomik.
matiſchen, aller Nationen und Zeitalter geben kann — welche Nachtheile! — Und dennoch iſt bey-
nahe kein Tag, der mir nicht alte Beobachtungen beſtaͤtigt oder neue zufuͤhrt.

Wer nur die mindeſte Fertigkeit hat, zu beobachten und zu vergleichen, wer nur einmal
auf einem Wege iſt, den die Natur ſelbſt ihm vorzeichnet, der wird, wenn ihm auch noch meh-
rere Kenntniſſe fehlen ſollten als mir, jeden Tag mitten unter alle dem Heere von Schwierigkei-
ten, womit er ſich freylich unaufhoͤrlich umringt ſehen wird, dennoch ſehr leicht einige Schritte
weiter gehen koͤnnen.

Die Menſchen ſind doch immer vor unſern Augen — auch in der kleinſten Reichsſtadt ein
ſteter Ab- und Zufluß von unzaͤhligen; Menſchen des verſchiedenſten, des entgegengeſetzteſten Cha-
racters; unter dieſen viele, deren Character uns, ohne Ruͤckſicht auf die Phyſiognomie, bekannt
ſind; von denen wir gewiß wiſſen: ſie ſind guͤtig, ſind hart; ſind leichtſinnig, ſind argwoͤhniſch;
ſind verſtaͤndig, ſind dumm; ſind mittelmaͤßig, ſind ſchwach: Menſchen, deren Geſichter eben ſo
verſchieden ſind, als ihre Character, und deren Geſichtsverſchiedenheiten ſich eben ſo wohl beſtimmen,
angeben, beſchreiben, oder zeichnen laſſen, als die Verſchiedenheit ihrer uns ſonſt bekannten Cha-
racter ſich angeben und beſtimmen laͤßt.

Taͤglich erfahren wir die Menſchen in der Naͤhe: Jhre Angelegenheiten verweben und ſtoſ-
ſen ſich mit den unſrigen. Wie ſie immer ſich verſtellen moͤgen; die Leidenſchaft ſtoͤßt ihnen nur
allzuoft die Larve vom Geſicht, und zeigt uns, wenigſtens blitzweiſe, ihre wahre Geſtalt, oder doch
eine Seite derſelben.

Und dann, ſollte die Natur ihre Sprache dem Ohr und Auge des Menſchen ſo ganz un-
verſtaͤndlich, oder ſo gar ſchwer gemacht haben? Jhm Aug und Ohr, Gefuͤhl, Nerven, innern
Sinn gegeben haben, und ſelbſt die Sprache der Oberflaͤchen ihm ſo unverſtehbar, ſo kaum erforſch-
bar gemacht haben? Sie, die die Toͤne fuͤrs Ohr, das Ohr fuͤr die Toͤne gemacht hat? Sie, die
den Menſchen ſo bald ſprechen, und die Sprache verſtehen lehrt? Sie, die Licht fuͤrs Auge, und
das Auge fuͤrs Licht ſchuf, ſollte unzaͤhlige verſchiedene Geſtalten und Ausdruͤcke unſichtbarer Anla-
gen, Kraͤfte, Neigungen, Leidenſchaften, gebildet haben — dem Menſchen Sinn und Trieb und
Gefuͤhl, die ſich offenbar darauf beziehen, gegeben — und bey allen dieſen ihren maͤchtigen Rei-
zungen — es ihm unmoͤglich gemacht haben, ſeinen Wiſſensdurſt auch in dieſer Abſicht zu

befrie-
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. X
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[153/0221] der Phyſiognomik. matiſchen, aller Nationen und Zeitalter geben kann — welche Nachtheile! — Und dennoch iſt bey- nahe kein Tag, der mir nicht alte Beobachtungen beſtaͤtigt oder neue zufuͤhrt. Wer nur die mindeſte Fertigkeit hat, zu beobachten und zu vergleichen, wer nur einmal auf einem Wege iſt, den die Natur ſelbſt ihm vorzeichnet, der wird, wenn ihm auch noch meh- rere Kenntniſſe fehlen ſollten als mir, jeden Tag mitten unter alle dem Heere von Schwierigkei- ten, womit er ſich freylich unaufhoͤrlich umringt ſehen wird, dennoch ſehr leicht einige Schritte weiter gehen koͤnnen. Die Menſchen ſind doch immer vor unſern Augen — auch in der kleinſten Reichsſtadt ein ſteter Ab- und Zufluß von unzaͤhligen; Menſchen des verſchiedenſten, des entgegengeſetzteſten Cha- racters; unter dieſen viele, deren Character uns, ohne Ruͤckſicht auf die Phyſiognomie, bekannt ſind; von denen wir gewiß wiſſen: ſie ſind guͤtig, ſind hart; ſind leichtſinnig, ſind argwoͤhniſch; ſind verſtaͤndig, ſind dumm; ſind mittelmaͤßig, ſind ſchwach: Menſchen, deren Geſichter eben ſo verſchieden ſind, als ihre Character, und deren Geſichtsverſchiedenheiten ſich eben ſo wohl beſtimmen, angeben, beſchreiben, oder zeichnen laſſen, als die Verſchiedenheit ihrer uns ſonſt bekannten Cha- racter ſich angeben und beſtimmen laͤßt. Taͤglich erfahren wir die Menſchen in der Naͤhe: Jhre Angelegenheiten verweben und ſtoſ- ſen ſich mit den unſrigen. Wie ſie immer ſich verſtellen moͤgen; die Leidenſchaft ſtoͤßt ihnen nur allzuoft die Larve vom Geſicht, und zeigt uns, wenigſtens blitzweiſe, ihre wahre Geſtalt, oder doch eine Seite derſelben. Und dann, ſollte die Natur ihre Sprache dem Ohr und Auge des Menſchen ſo ganz un- verſtaͤndlich, oder ſo gar ſchwer gemacht haben? Jhm Aug und Ohr, Gefuͤhl, Nerven, innern Sinn gegeben haben, und ſelbſt die Sprache der Oberflaͤchen ihm ſo unverſtehbar, ſo kaum erforſch- bar gemacht haben? Sie, die die Toͤne fuͤrs Ohr, das Ohr fuͤr die Toͤne gemacht hat? Sie, die den Menſchen ſo bald ſprechen, und die Sprache verſtehen lehrt? Sie, die Licht fuͤrs Auge, und das Auge fuͤrs Licht ſchuf, ſollte unzaͤhlige verſchiedene Geſtalten und Ausdruͤcke unſichtbarer Anla- gen, Kraͤfte, Neigungen, Leidenſchaften, gebildet haben — dem Menſchen Sinn und Trieb und Gefuͤhl, die ſich offenbar darauf beziehen, gegeben — und bey allen dieſen ihren maͤchtigen Rei- zungen — es ihm unmoͤglich gemacht haben, ſeinen Wiſſensdurſt auch in dieſer Abſicht zu befrie- Phyſ. Fragm. I. Verſuch. X

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/221>, abgerufen am 19.04.2024.