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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Vom Nutzen der Physiognomik.

Jch kann es, und muß es an diesem Orte voraussetzen, daß Physiognomik fürs erste wenig-
stens den Anspruch auf innere Nutzbarkeit habe, den man vernünftiger Weise allen mensch-
lichen Wissenschaften
und Kenntnissen überhaupt zugestehen muß.

Welch ein Vorzug der Wichtigkeit und Nutzbarkeit ist nun aber billig der Menschenkennt-
niß von je her gegeben worden? Was geht den Menschen mehr an, als der Mensch? welche
Kenntniß kann mehrern Einfluß auf seine Wohlfahrt haben, als die Kenntniß seiner selbst?
Physiognomik ist es also auch da wieder, die sich dieß besondre Verdienst von Nutzbarkeit zu-
eignen darf.

Noch mehr: von allem dem, was sich immer vom Menschen wissen läßt, von allem, was
sich immer über ihn, und zwar über seinen Geist raisonniren läßt, ist das, was aus Zeichen, die
in die Sinne fallen, erkannt wird, was hiemit Erfahrungserkenntniß giebt, immer das Zuver-
läßigste und Brauchbarste, und der Nutzen desselben hiemit um so viel sichrer; welcher Philosoph
wird nicht den empyrischen Theil der Psychologie allem übrigen vorziehen?

Als Kenntniß überhaupt, als Menschenkenntniß demnach, und endlich als empyrische
Menschenkenntniß
hat auch schon ohne weiters die Physiognomik das dreyfache Verdienst der
Nutzbarkeit.

Wer sich nun noch eigentlicher von dem Nutzen der Physiognomik überzeugen will, der lasse
sich einen Augenblick seyn, daß alle, auch die undeutlichen physiognomischen Kenntnisse, aller phy-
siognomische Sinn aus der Welt heraus gehoben würden; welche Verwirrung, welche Unzuver-
lässigkeit und Unsicherheit, welche Ungereimtheit würden nicht in tausend und Millionen menschli-
chen Handlungen entstehen? Was ist die ewige Unsicherheit im Handeln für eine immerwährende
Plage und ein schreckliches Hinderniß in allem, was wir unmittelbar mit den Menschen zu thun
haben; und wie unendlich würde alsdann die Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder
blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrscheinlichkeiten beruht, ge-
schwächt! Wie viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menschheit
sind, würden unterlassen werden!

Der Umgang mit den Menschen ist ja das erste, was uns in der Welt aufstößt; der
Mensch ist berufen, mit Menschen umzugehen. Kenntniß des Menschen ist ja die Seele des Um-

gangs,
X 3
Vom Nutzen der Phyſiognomik.

Jch kann es, und muß es an dieſem Orte vorausſetzen, daß Phyſiognomik fuͤrs erſte wenig-
ſtens den Anſpruch auf innere Nutzbarkeit habe, den man vernuͤnftiger Weiſe allen menſch-
lichen Wiſſenſchaften
und Kenntniſſen uͤberhaupt zugeſtehen muß.

Welch ein Vorzug der Wichtigkeit und Nutzbarkeit iſt nun aber billig der Menſchenkennt-
niß von je her gegeben worden? Was geht den Menſchen mehr an, als der Menſch? welche
Kenntniß kann mehrern Einfluß auf ſeine Wohlfahrt haben, als die Kenntniß ſeiner ſelbſt?
Phyſiognomik iſt es alſo auch da wieder, die ſich dieß beſondre Verdienſt von Nutzbarkeit zu-
eignen darf.

Noch mehr: von allem dem, was ſich immer vom Menſchen wiſſen laͤßt, von allem, was
ſich immer uͤber ihn, und zwar uͤber ſeinen Geiſt raiſonniren laͤßt, iſt das, was aus Zeichen, die
in die Sinne fallen, erkannt wird, was hiemit Erfahrungserkenntniß giebt, immer das Zuver-
laͤßigſte und Brauchbarſte, und der Nutzen deſſelben hiemit um ſo viel ſichrer; welcher Philoſoph
wird nicht den empyriſchen Theil der Pſychologie allem uͤbrigen vorziehen?

Als Kenntniß uͤberhaupt, als Menſchenkenntniß demnach, und endlich als empyriſche
Menſchenkenntniß
hat auch ſchon ohne weiters die Phyſiognomik das dreyfache Verdienſt der
Nutzbarkeit.

Wer ſich nun noch eigentlicher von dem Nutzen der Phyſiognomik uͤberzeugen will, der laſſe
ſich einen Augenblick ſeyn, daß alle, auch die undeutlichen phyſiognomiſchen Kenntniſſe, aller phy-
ſiognomiſche Sinn aus der Welt heraus gehoben wuͤrden; welche Verwirrung, welche Unzuver-
laͤſſigkeit und Unſicherheit, welche Ungereimtheit wuͤrden nicht in tauſend und Millionen menſchli-
chen Handlungen entſtehen? Was iſt die ewige Unſicherheit im Handeln fuͤr eine immerwaͤhrende
Plage und ein ſchreckliches Hinderniß in allem, was wir unmittelbar mit den Menſchen zu thun
haben; und wie unendlich wuͤrde alsdann die Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder
blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrſcheinlichkeiten beruht, ge-
ſchwaͤcht! Wie viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menſchheit
ſind, wuͤrden unterlaſſen werden!

Der Umgang mit den Menſchen iſt ja das erſte, was uns in der Welt aufſtoͤßt; der
Menſch iſt berufen, mit Menſchen umzugehen. Kenntniß des Menſchen iſt ja die Seele des Um-

gangs,
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[157/0225] Vom Nutzen der Phyſiognomik. Jch kann es, und muß es an dieſem Orte vorausſetzen, daß Phyſiognomik fuͤrs erſte wenig- ſtens den Anſpruch auf innere Nutzbarkeit habe, den man vernuͤnftiger Weiſe allen menſch- lichen Wiſſenſchaften und Kenntniſſen uͤberhaupt zugeſtehen muß. Welch ein Vorzug der Wichtigkeit und Nutzbarkeit iſt nun aber billig der Menſchenkennt- niß von je her gegeben worden? Was geht den Menſchen mehr an, als der Menſch? welche Kenntniß kann mehrern Einfluß auf ſeine Wohlfahrt haben, als die Kenntniß ſeiner ſelbſt? Phyſiognomik iſt es alſo auch da wieder, die ſich dieß beſondre Verdienſt von Nutzbarkeit zu- eignen darf. Noch mehr: von allem dem, was ſich immer vom Menſchen wiſſen laͤßt, von allem, was ſich immer uͤber ihn, und zwar uͤber ſeinen Geiſt raiſonniren laͤßt, iſt das, was aus Zeichen, die in die Sinne fallen, erkannt wird, was hiemit Erfahrungserkenntniß giebt, immer das Zuver- laͤßigſte und Brauchbarſte, und der Nutzen deſſelben hiemit um ſo viel ſichrer; welcher Philoſoph wird nicht den empyriſchen Theil der Pſychologie allem uͤbrigen vorziehen? Als Kenntniß uͤberhaupt, als Menſchenkenntniß demnach, und endlich als empyriſche Menſchenkenntniß hat auch ſchon ohne weiters die Phyſiognomik das dreyfache Verdienſt der Nutzbarkeit. Wer ſich nun noch eigentlicher von dem Nutzen der Phyſiognomik uͤberzeugen will, der laſſe ſich einen Augenblick ſeyn, daß alle, auch die undeutlichen phyſiognomiſchen Kenntniſſe, aller phy- ſiognomiſche Sinn aus der Welt heraus gehoben wuͤrden; welche Verwirrung, welche Unzuver- laͤſſigkeit und Unſicherheit, welche Ungereimtheit wuͤrden nicht in tauſend und Millionen menſchli- chen Handlungen entſtehen? Was iſt die ewige Unſicherheit im Handeln fuͤr eine immerwaͤhrende Plage und ein ſchreckliches Hinderniß in allem, was wir unmittelbar mit den Menſchen zu thun haben; und wie unendlich wuͤrde alsdann die Sicherheit, die auf einer Summe angeblicher, oder blos confus gedachter, deutlich bemerkter, oder blos empfundener Wahrſcheinlichkeiten beruht, ge- ſchwaͤcht! Wie viele Millionen Handlungen und Unternehmungen, die die Ehre der Menſchheit ſind, wuͤrden unterlaſſen werden! Der Umgang mit den Menſchen iſt ja das erſte, was uns in der Welt aufſtoͤßt; der Menſch iſt berufen, mit Menſchen umzugehen. Kenntniß des Menſchen iſt ja die Seele des Um- gangs, X 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/225>, abgerufen am 25.04.2024.