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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XIV. Fragment.

Jch bin schwer angeklagt, und die Klage hat großen Schein der Wahrheit. Aber wie
leicht ist mir die Vertheidigung, wie angenehm gegen jeden, der diese Klage aus Menschen lieben-
dem Kummer hervorbringt, und nicht aus Sentimentsprahlerey.

Die Klage ist gedoppelt. "Jch befördere die Menschenrichterey und die Eitelkeit; ich
"lehre den Menschen mehr richten und tadeln, und ich mache ihn eitel und scheingut?"

Jch will auf jede antworten, und es denke ja niemand, daß ich das, was Wahres an
diesen Vorwürfen seyn mag, mir selbst nicht schon oft gesagt, nicht sehr oft in aller Stärke ge-
fühlt habe.

Der erste Vorwurf betrifft einen zu erwartenden möglichen Mißbrauch dieser Wissenschaft.

Freylich kann eine gute Sache nicht gemißbraucht werden, bis sie da ist: und wenn sie
da ist, so fängt sie an, diesen Schaden zu stiften, weil sie unschuldiger Weise von nun an Ge-
legenheit giebt, gemißbraucht zu werden. -- Deswegen nun sollte eine gute Sache nicht seyn?

Alle wehmüthige Klage über den möglichen, sehr wahrscheinlichen, und, wenn man will,
unvermeidlichen Mißbrauch dieser Sache, hat am Ende doch nur ihr bestimmtes Gewicht: denn
wer billig seyn will, läßt sich durch kein Deklamiren über den Schaden allein, einnehmen.

Er wiegt den Nutzen dagegen, und wenn das Uebergewicht desselben augenscheinlich ist, so
beruhigt er sich und sucht den Schaden, so gut wie möglich, abzuwenden und zu vermindern.

Wer kann diese heldenmüthige Standhaftigkeit bey etwas Gutem, das auch Böses mit
sich führt, besser in uns nähren: wer uns mehr heilen von jener kleinmüthigen Aengstlichkeit, die
sich durch jede unvermeidliche böse Nebenfolge vom Guten abschrecken läßt -- als der große Unter-
nehmer und Stifter des größten Guten, der bey aller seiner zärtlichen Menschlichkeit, bey aller
seiner Geräusch hassenden Friedfertigkeit so kühn sprach! "Jch bin nicht gekommen, Friede auf
"Erden zu senden, sondern das Schwerdt?"

Leid um jede schlimme Folge seines Thuns ist's ihm gewesen; aber ruhig war er doch bey
allem, was an sich gut war, was überwiegend gut in seinen Folgen seyn mußte.

Leid will ich mir's seyn lassen um jede beyläufige schlimme Folge dieses Buchs, aber ru-
hig will ich seyn bey dem großen Uebergewichte des Guten, das es wirken wird. -- Jch sehe
sie deutlich und bestimmt voraus: ich verberge sie mir nicht, alle die schädlichen Wirkungen, die un-

fehlbar,
XIV. Fragment.

Jch bin ſchwer angeklagt, und die Klage hat großen Schein der Wahrheit. Aber wie
leicht iſt mir die Vertheidigung, wie angenehm gegen jeden, der dieſe Klage aus Menſchen lieben-
dem Kummer hervorbringt, und nicht aus Sentimentsprahlerey.

Die Klage iſt gedoppelt. „Jch befoͤrdere die Menſchenrichterey und die Eitelkeit; ich
„lehre den Menſchen mehr richten und tadeln, und ich mache ihn eitel und ſcheingut?“

Jch will auf jede antworten, und es denke ja niemand, daß ich das, was Wahres an
dieſen Vorwuͤrfen ſeyn mag, mir ſelbſt nicht ſchon oft geſagt, nicht ſehr oft in aller Staͤrke ge-
fuͤhlt habe.

Der erſte Vorwurf betrifft einen zu erwartenden moͤglichen Mißbrauch dieſer Wiſſenſchaft.

Freylich kann eine gute Sache nicht gemißbraucht werden, bis ſie da iſt: und wenn ſie
da iſt, ſo faͤngt ſie an, dieſen Schaden zu ſtiften, weil ſie unſchuldiger Weiſe von nun an Ge-
legenheit giebt, gemißbraucht zu werden. — Deswegen nun ſollte eine gute Sache nicht ſeyn?

Alle wehmuͤthige Klage uͤber den moͤglichen, ſehr wahrſcheinlichen, und, wenn man will,
unvermeidlichen Mißbrauch dieſer Sache, hat am Ende doch nur ihr beſtimmtes Gewicht: denn
wer billig ſeyn will, laͤßt ſich durch kein Deklamiren uͤber den Schaden allein, einnehmen.

Er wiegt den Nutzen dagegen, und wenn das Uebergewicht deſſelben augenſcheinlich iſt, ſo
beruhigt er ſich und ſucht den Schaden, ſo gut wie moͤglich, abzuwenden und zu vermindern.

Wer kann dieſe heldenmuͤthige Standhaftigkeit bey etwas Gutem, das auch Boͤſes mit
ſich fuͤhrt, beſſer in uns naͤhren: wer uns mehr heilen von jener kleinmuͤthigen Aengſtlichkeit, die
ſich durch jede unvermeidliche boͤſe Nebenfolge vom Guten abſchrecken laͤßt — als der große Unter-
nehmer und Stifter des groͤßten Guten, der bey aller ſeiner zaͤrtlichen Menſchlichkeit, bey aller
ſeiner Geraͤuſch haſſenden Friedfertigkeit ſo kuͤhn ſprach! „Jch bin nicht gekommen, Friede auf
„Erden zu ſenden, ſondern das Schwerdt?“

Leid um jede ſchlimme Folge ſeines Thuns iſt's ihm geweſen; aber ruhig war er doch bey
allem, was an ſich gut war, was uͤberwiegend gut in ſeinen Folgen ſeyn mußte.

Leid will ich mir's ſeyn laſſen um jede beylaͤufige ſchlimme Folge dieſes Buchs, aber ru-
hig will ich ſeyn bey dem großen Uebergewichte des Guten, das es wirken wird. — Jch ſehe
ſie deutlich und beſtimmt voraus: ich verberge ſie mir nicht, alle die ſchaͤdlichen Wirkungen, die un-

fehlbar,
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[164/0232] XIV. Fragment. Jch bin ſchwer angeklagt, und die Klage hat großen Schein der Wahrheit. Aber wie leicht iſt mir die Vertheidigung, wie angenehm gegen jeden, der dieſe Klage aus Menſchen lieben- dem Kummer hervorbringt, und nicht aus Sentimentsprahlerey. Die Klage iſt gedoppelt. „Jch befoͤrdere die Menſchenrichterey und die Eitelkeit; ich „lehre den Menſchen mehr richten und tadeln, und ich mache ihn eitel und ſcheingut?“ Jch will auf jede antworten, und es denke ja niemand, daß ich das, was Wahres an dieſen Vorwuͤrfen ſeyn mag, mir ſelbſt nicht ſchon oft geſagt, nicht ſehr oft in aller Staͤrke ge- fuͤhlt habe. Der erſte Vorwurf betrifft einen zu erwartenden moͤglichen Mißbrauch dieſer Wiſſenſchaft. Freylich kann eine gute Sache nicht gemißbraucht werden, bis ſie da iſt: und wenn ſie da iſt, ſo faͤngt ſie an, dieſen Schaden zu ſtiften, weil ſie unſchuldiger Weiſe von nun an Ge- legenheit giebt, gemißbraucht zu werden. — Deswegen nun ſollte eine gute Sache nicht ſeyn? Alle wehmuͤthige Klage uͤber den moͤglichen, ſehr wahrſcheinlichen, und, wenn man will, unvermeidlichen Mißbrauch dieſer Sache, hat am Ende doch nur ihr beſtimmtes Gewicht: denn wer billig ſeyn will, laͤßt ſich durch kein Deklamiren uͤber den Schaden allein, einnehmen. Er wiegt den Nutzen dagegen, und wenn das Uebergewicht deſſelben augenſcheinlich iſt, ſo beruhigt er ſich und ſucht den Schaden, ſo gut wie moͤglich, abzuwenden und zu vermindern. Wer kann dieſe heldenmuͤthige Standhaftigkeit bey etwas Gutem, das auch Boͤſes mit ſich fuͤhrt, beſſer in uns naͤhren: wer uns mehr heilen von jener kleinmuͤthigen Aengſtlichkeit, die ſich durch jede unvermeidliche boͤſe Nebenfolge vom Guten abſchrecken laͤßt — als der große Unter- nehmer und Stifter des groͤßten Guten, der bey aller ſeiner zaͤrtlichen Menſchlichkeit, bey aller ſeiner Geraͤuſch haſſenden Friedfertigkeit ſo kuͤhn ſprach! „Jch bin nicht gekommen, Friede auf „Erden zu ſenden, ſondern das Schwerdt?“ Leid um jede ſchlimme Folge ſeines Thuns iſt's ihm geweſen; aber ruhig war er doch bey allem, was an ſich gut war, was uͤberwiegend gut in ſeinen Folgen ſeyn mußte. Leid will ich mir's ſeyn laſſen um jede beylaͤufige ſchlimme Folge dieſes Buchs, aber ru- hig will ich ſeyn bey dem großen Uebergewichte des Guten, das es wirken wird. — Jch ſehe ſie deutlich und beſtimmt voraus: ich verberge ſie mir nicht, alle die ſchaͤdlichen Wirkungen, die un- fehlbar,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/232>, abgerufen am 28.03.2024.