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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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zur Prüfung des physiognomischen Genies.
S.
Giorgione oder Georgius Barbarelli.

Viele, die diesen Kopf gesehn, haben ihn bey dem ersten Anblicke für einen Christus Kopf gehal-
ten. Das ist dem ersten Anblicke zu verzeihen, aber nicht dem zweyten.

Ein offnes, gerades Gesicht eines großen Mannes ist's gewiß, ist's im schattirten Origi-
nale nach Titian weit mehr noch, als in diesem dürftigen Umrisse.

Ein Gesicht, das die Kühnheit, die unerreichbare Freyheit seines geistvollen Pinsels
trefflich ausdrückt.

Es ist nicht das Gesicht eines langsamen, profonden Denkers; auch nicht eines mühsa-
men, langsamgeduldigen, jeden Strich auspolierenden Künstlers.

Obgleich, vermuthlich durch die zu große, schattenlose Unterlippe, der Mund etwas Ver-
achtendes hat, welches jedoch dem feuervollen Künstler sehr natürlich hätte gewesen seyn können,
so ist dennoch in der Mittellinie des Mundes (das ist, der Linie, welche aus der Zusammenfügung
beyder Lippen entsteht) obgleich auch diese mit zu dem Eindrucke der Verachtung hilft, etwas, das
uns Ehrfurcht einflößt, weil es Kraft zeigt.

Die Nase ist in diesem Gesichte unstreitig eins der besten Empfehlungsmittel! So ist
sicherlich keine Nase eines Menschen, der kein schöpferisches Genie, keinen fruchtbaren Geist hat.

Bemerke besonders an dieser Nase die Höhlung unten am sichtbaren Knorpel. --

Auch der Wuchs des Bartes zeigt von dem Feuer seines Pinsels, und von der Fruchtbar-
keit seiner Gestalten.

T.
Große Silhouette.

Unter so vielen hundert Silhouetten, die ich sammelte und sahe, zeichnet sich diese gerade so aus,
wie das Urbild derselben unter den Gelehrten.

Mich dünkt, die Sache ist so auffallend, wie möglich.

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zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
S.
Giorgione oder Georgius Barbarelli.

Viele, die dieſen Kopf geſehn, haben ihn bey dem erſten Anblicke fuͤr einen Chriſtus Kopf gehal-
ten. Das iſt dem erſten Anblicke zu verzeihen, aber nicht dem zweyten.

Ein offnes, gerades Geſicht eines großen Mannes iſt's gewiß, iſt's im ſchattirten Origi-
nale nach Titian weit mehr noch, als in dieſem duͤrftigen Umriſſe.

Ein Geſicht, das die Kuͤhnheit, die unerreichbare Freyheit ſeines geiſtvollen Pinſels
trefflich ausdruͤckt.

Es iſt nicht das Geſicht eines langſamen, profonden Denkers; auch nicht eines muͤhſa-
men, langſamgeduldigen, jeden Strich auspolierenden Kuͤnſtlers.

Obgleich, vermuthlich durch die zu große, ſchattenloſe Unterlippe, der Mund etwas Ver-
achtendes hat, welches jedoch dem feuervollen Kuͤnſtler ſehr natuͤrlich haͤtte geweſen ſeyn koͤnnen,
ſo iſt dennoch in der Mittellinie des Mundes (das iſt, der Linie, welche aus der Zuſammenfuͤgung
beyder Lippen entſteht) obgleich auch dieſe mit zu dem Eindrucke der Verachtung hilft, etwas, das
uns Ehrfurcht einfloͤßt, weil es Kraft zeigt.

Die Naſe iſt in dieſem Geſichte unſtreitig eins der beſten Empfehlungsmittel! So iſt
ſicherlich keine Naſe eines Menſchen, der kein ſchoͤpferiſches Genie, keinen fruchtbaren Geiſt hat.

Bemerke beſonders an dieſer Naſe die Hoͤhlung unten am ſichtbaren Knorpel. —

Auch der Wuchs des Bartes zeigt von dem Feuer ſeines Pinſels, und von der Fruchtbar-
keit ſeiner Geſtalten.

T.
Große Silhouette.

Unter ſo vielen hundert Silhouetten, die ich ſammelte und ſahe, zeichnet ſich dieſe gerade ſo aus,
wie das Urbild derſelben unter den Gelehrten.

Mich duͤnkt, die Sache iſt ſo auffallend, wie moͤglich.

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[219/0323] zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies. S. Giorgione oder Georgius Barbarelli. Viele, die dieſen Kopf geſehn, haben ihn bey dem erſten Anblicke fuͤr einen Chriſtus Kopf gehal- ten. Das iſt dem erſten Anblicke zu verzeihen, aber nicht dem zweyten. Ein offnes, gerades Geſicht eines großen Mannes iſt's gewiß, iſt's im ſchattirten Origi- nale nach Titian weit mehr noch, als in dieſem duͤrftigen Umriſſe. Ein Geſicht, das die Kuͤhnheit, die unerreichbare Freyheit ſeines geiſtvollen Pinſels trefflich ausdruͤckt. Es iſt nicht das Geſicht eines langſamen, profonden Denkers; auch nicht eines muͤhſa- men, langſamgeduldigen, jeden Strich auspolierenden Kuͤnſtlers. Obgleich, vermuthlich durch die zu große, ſchattenloſe Unterlippe, der Mund etwas Ver- achtendes hat, welches jedoch dem feuervollen Kuͤnſtler ſehr natuͤrlich haͤtte geweſen ſeyn koͤnnen, ſo iſt dennoch in der Mittellinie des Mundes (das iſt, der Linie, welche aus der Zuſammenfuͤgung beyder Lippen entſteht) obgleich auch dieſe mit zu dem Eindrucke der Verachtung hilft, etwas, das uns Ehrfurcht einfloͤßt, weil es Kraft zeigt. Die Naſe iſt in dieſem Geſichte unſtreitig eins der beſten Empfehlungsmittel! So iſt ſicherlich keine Naſe eines Menſchen, der kein ſchoͤpferiſches Genie, keinen fruchtbaren Geiſt hat. Bemerke beſonders an dieſer Naſe die Hoͤhlung unten am ſichtbaren Knorpel. — Auch der Wuchs des Bartes zeigt von dem Feuer ſeines Pinſels, und von der Fruchtbar- keit ſeiner Geſtalten. T. Große Silhouette. Unter ſo vielen hundert Silhouetten, die ich ſammelte und ſahe, zeichnet ſich dieſe gerade ſo aus, wie das Urbild derſelben unter den Gelehrten. Mich duͤnkt, die Sache iſt ſo auffallend, wie moͤglich. Jch F f 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/323>, abgerufen am 29.03.2024.