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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen

Jch glaube, behaupten zu dürfen, daß kein natürlicher Dummkopf, kein eingeschränkter
Geist, so ein Profil, eine solche Stirne, eine solche Nase haben wird!

Und dennoch hat, so viel ich weiß, aller dieser entscheidenden kraftvollen Züge ungeachtet,
kein Mahler, kein Zeichner, weder das Vollgesicht, noch das Prosil dieses außerordentlichen Man-
nes gut und characteristisch getroffen.

Obgleich sein Lebensgeschichtschreiber sagt, daß er in seinen frühsten Jahren äußerst
schwächlich, unbeleibt und rachitisch gewesen; und obgleich eben dieser Verfasser so erstaunlich viel
auf die unverstellten Kinderphysiognomien rechnet, so glaub ich dennoch, daß der Hauptbau, und
die Grundlage dieses Körpers auf große Kraft und Stärke angelegt gewesen. Wenigstens
scheint sich dieses Profil in jedem Sinne durch Kraft auszuzeichnen, aber nicht plumpe, nicht
wilde Kraft.

Außerordentliche Verstandeshelle; die möglichste Bestimmtheit, Nettigkeit und Ordnung
der Begriffe; Kraft, sie ins angenehmste sinnliche Licht darzustellen; unerschöpflicher Reichthum
der Jdeen, vereint mit der äußersten Sparsamkeit der Worte; ein allumfassendes heiteres Ge-
dächtniß; der reinste Geschmack; Kraft in allem, und ruhiges Empfinden seiner Kraft; eine
allen Glauben übersteigende, tiefe, feste Gelehrsamkeit; ein Fleiß ohne Beyspiel, gleichweit
entfernt von Aengstlichkeit und Stürmerey; Klugheit und Fertigkeit in allen Unternehmungen;
unaufhörliche, freye, unpedantische Calculation -- und bey allem dem so viel feine Empfind-
samkeit, so viele Theilnehmung am Schönen, Guten, Edlen, Wahren, Göttlichen --

Dieß sind einige bekannte, unläugbare Züge aus dem Character des Mannes, von dessen
halben Gesichte wir hier die äußerste Gränzlinie vor uns haben.

Wie wenig und wie viel sagt uns blos diese Linie! wie stark und entscheidend drückt sie
mannichfaltige Kraft aus!

Jch bitte aber vor allen Dingen, auf die Nase, diesen entscheidenden Zug der verstandrei-
chen Seele, den Blick zu werfen.

Hundert sehr verständige sind's ohne diesen Ausdruck.

Aber, wer ihn hat, auf dessen Verstand und Klugheit, wenn sie nicht durch gänzliche Ver-
nachläßigung, oder durch gewaltsame Zufälle gekränkt und erstickt worden, dürft ihr so sicher

zählen,
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen

Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß kein natuͤrlicher Dummkopf, kein eingeſchraͤnkter
Geiſt, ſo ein Profil, eine ſolche Stirne, eine ſolche Naſe haben wird!

Und dennoch hat, ſo viel ich weiß, aller dieſer entſcheidenden kraftvollen Zuͤge ungeachtet,
kein Mahler, kein Zeichner, weder das Vollgeſicht, noch das Proſil dieſes außerordentlichen Man-
nes gut und characteriſtiſch getroffen.

Obgleich ſein Lebensgeſchichtſchreiber ſagt, daß er in ſeinen fruͤhſten Jahren aͤußerſt
ſchwaͤchlich, unbeleibt und rachitiſch geweſen; und obgleich eben dieſer Verfaſſer ſo erſtaunlich viel
auf die unverſtellten Kinderphyſiognomien rechnet, ſo glaub ich dennoch, daß der Hauptbau, und
die Grundlage dieſes Koͤrpers auf große Kraft und Staͤrke angelegt geweſen. Wenigſtens
ſcheint ſich dieſes Profil in jedem Sinne durch Kraft auszuzeichnen, aber nicht plumpe, nicht
wilde Kraft.

Außerordentliche Verſtandeshelle; die moͤglichſte Beſtimmtheit, Nettigkeit und Ordnung
der Begriffe; Kraft, ſie ins angenehmſte ſinnliche Licht darzuſtellen; unerſchoͤpflicher Reichthum
der Jdeen, vereint mit der aͤußerſten Sparſamkeit der Worte; ein allumfaſſendes heiteres Ge-
daͤchtniß; der reinſte Geſchmack; Kraft in allem, und ruhiges Empfinden ſeiner Kraft; eine
allen Glauben uͤberſteigende, tiefe, feſte Gelehrſamkeit; ein Fleiß ohne Beyſpiel, gleichweit
entfernt von Aengſtlichkeit und Stuͤrmerey; Klugheit und Fertigkeit in allen Unternehmungen;
unaufhoͤrliche, freye, unpedantiſche Calculation — und bey allem dem ſo viel feine Empfind-
ſamkeit, ſo viele Theilnehmung am Schoͤnen, Guten, Edlen, Wahren, Goͤttlichen —

Dieß ſind einige bekannte, unlaͤugbare Zuͤge aus dem Character des Mannes, von deſſen
halben Geſichte wir hier die aͤußerſte Graͤnzlinie vor uns haben.

Wie wenig und wie viel ſagt uns blos dieſe Linie! wie ſtark und entſcheidend druͤckt ſie
mannichfaltige Kraft aus!

Jch bitte aber vor allen Dingen, auf die Naſe, dieſen entſcheidenden Zug der verſtandrei-
chen Seele, den Blick zu werfen.

Hundert ſehr verſtaͤndige ſind's ohne dieſen Ausdruck.

Aber, wer ihn hat, auf deſſen Verſtand und Klugheit, wenn ſie nicht durch gaͤnzliche Ver-
nachlaͤßigung, oder durch gewaltſame Zufaͤlle gekraͤnkt und erſtickt worden, duͤrft ihr ſo ſicher

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[220/0324] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen Jch glaube, behaupten zu duͤrfen, daß kein natuͤrlicher Dummkopf, kein eingeſchraͤnkter Geiſt, ſo ein Profil, eine ſolche Stirne, eine ſolche Naſe haben wird! Und dennoch hat, ſo viel ich weiß, aller dieſer entſcheidenden kraftvollen Zuͤge ungeachtet, kein Mahler, kein Zeichner, weder das Vollgeſicht, noch das Proſil dieſes außerordentlichen Man- nes gut und characteriſtiſch getroffen. Obgleich ſein Lebensgeſchichtſchreiber ſagt, daß er in ſeinen fruͤhſten Jahren aͤußerſt ſchwaͤchlich, unbeleibt und rachitiſch geweſen; und obgleich eben dieſer Verfaſſer ſo erſtaunlich viel auf die unverſtellten Kinderphyſiognomien rechnet, ſo glaub ich dennoch, daß der Hauptbau, und die Grundlage dieſes Koͤrpers auf große Kraft und Staͤrke angelegt geweſen. Wenigſtens ſcheint ſich dieſes Profil in jedem Sinne durch Kraft auszuzeichnen, aber nicht plumpe, nicht wilde Kraft. Außerordentliche Verſtandeshelle; die moͤglichſte Beſtimmtheit, Nettigkeit und Ordnung der Begriffe; Kraft, ſie ins angenehmſte ſinnliche Licht darzuſtellen; unerſchoͤpflicher Reichthum der Jdeen, vereint mit der aͤußerſten Sparſamkeit der Worte; ein allumfaſſendes heiteres Ge- daͤchtniß; der reinſte Geſchmack; Kraft in allem, und ruhiges Empfinden ſeiner Kraft; eine allen Glauben uͤberſteigende, tiefe, feſte Gelehrſamkeit; ein Fleiß ohne Beyſpiel, gleichweit entfernt von Aengſtlichkeit und Stuͤrmerey; Klugheit und Fertigkeit in allen Unternehmungen; unaufhoͤrliche, freye, unpedantiſche Calculation — und bey allem dem ſo viel feine Empfind- ſamkeit, ſo viele Theilnehmung am Schoͤnen, Guten, Edlen, Wahren, Goͤttlichen — Dieß ſind einige bekannte, unlaͤugbare Zuͤge aus dem Character des Mannes, von deſſen halben Geſichte wir hier die aͤußerſte Graͤnzlinie vor uns haben. Wie wenig und wie viel ſagt uns blos dieſe Linie! wie ſtark und entſcheidend druͤckt ſie mannichfaltige Kraft aus! Jch bitte aber vor allen Dingen, auf die Naſe, dieſen entſcheidenden Zug der verſtandrei- chen Seele, den Blick zu werfen. Hundert ſehr verſtaͤndige ſind's ohne dieſen Ausdruck. Aber, wer ihn hat, auf deſſen Verſtand und Klugheit, wenn ſie nicht durch gaͤnzliche Ver- nachlaͤßigung, oder durch gewaltſame Zufaͤlle gekraͤnkt und erſtickt worden, duͤrft ihr ſo ſicher zaͤhlen,

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/324>, abgerufen am 11.12.2024.