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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
AA.
Drey Profilköpfe.

Die obern zwey Profile stellen, wie man leicht sehen wird, dasselbe Gesicht vor -- einen un-
beschreiblich originalen Gaskonier, den heitersten, fröhlichsten, witzreichsten und dabey determinir-
testen Kopf, den ich in meinem Leben gesehen! Der leichteste, frohmüthigste Avanturier; heut
ein Soldat; morgen ein Schiffmann, übermorgen ein Sklave, dann ein Verurtheilter -- nun
ein Sprachmeister, dann ein Cammerdiener, am meisten und gewöhnlichsten aber ein gewaltiger
Jäger, ders so frey vom Herzen weg gesteht, daß er keine Viertelstunde sitzen könne; daß hin-
und herlaufen, und alles prüfen, und alles leiden, und alles seyn, und nichts bleiben, seine
höchste Freude sey. --

Leute mit so zurückgehenden Stirnen und solchen Augenbraunen hab ich großentheils
witzreich, lebhaft, jovialisch gefunden, und diese Länge des Palliums der Zähne, der Oberlippe,
noch an keinem Menschen wahrgenommen, der mehr kalten Verstand, als Einbildungskraft hatte.

Und nun noch ein Wort von der Verschiedenheit dieser beyden Gesichter.

Das weniger hervordringende Auge des ersten ist wahrer, weiser, edler und aufrichtiger,
als des zweyten.

Die dritte Figur ist ebenfalls eines besonderen Mannes, -- eines Verseschöpfers, der
unaufhörlich empfängt, und unaufhörlich gebiert; eines ähnlichen Avanturiers, wie der obige ist.

Und so ein fruchtbarer Poet, so ein Jnpromptü Dichter würde er schwerlich seyn,
wenn seine Stirne perpendiculär wäre.

Eine gewisse Art unvergleichbaren Genies hat er gewiß, und zugleich jenen Leichtsinn
und jenen Muth, der sich durch alles durchschlägt, jenen Reichthum der Jdeen, der nie er-
schöpft wird, und jene Aufgeschlossenheit, die sich immer ergießt, und sobald sie sich ergossen, faßt
er ganze vermischte Haufen ihm begegnender, oder vorbeyfliehender, oder in der Fern erblickter
Jdeen wieder auf.

Ein Mann, der immer erblickt, selten sieht, nie beobachtet.

Alle
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
AA.
Drey Profilkoͤpfe.

Die obern zwey Profile ſtellen, wie man leicht ſehen wird, daſſelbe Geſicht vor — einen un-
beſchreiblich originalen Gaſkonier, den heiterſten, froͤhlichſten, witzreichſten und dabey determinir-
teſten Kopf, den ich in meinem Leben geſehen! Der leichteſte, frohmuͤthigſte Avanturier; heut
ein Soldat; morgen ein Schiffmann, uͤbermorgen ein Sklave, dann ein Verurtheilter — nun
ein Sprachmeiſter, dann ein Cammerdiener, am meiſten und gewoͤhnlichſten aber ein gewaltiger
Jaͤger, ders ſo frey vom Herzen weg geſteht, daß er keine Viertelſtunde ſitzen koͤnne; daß hin-
und herlaufen, und alles pruͤfen, und alles leiden, und alles ſeyn, und nichts bleiben, ſeine
hoͤchſte Freude ſey. —

Leute mit ſo zuruͤckgehenden Stirnen und ſolchen Augenbraunen hab ich großentheils
witzreich, lebhaft, jovialiſch gefunden, und dieſe Laͤnge des Palliums der Zaͤhne, der Oberlippe,
noch an keinem Menſchen wahrgenommen, der mehr kalten Verſtand, als Einbildungskraft hatte.

Und nun noch ein Wort von der Verſchiedenheit dieſer beyden Geſichter.

Das weniger hervordringende Auge des erſten iſt wahrer, weiſer, edler und aufrichtiger,
als des zweyten.

Die dritte Figur iſt ebenfalls eines beſonderen Mannes, — eines Verſeſchoͤpfers, der
unaufhoͤrlich empfaͤngt, und unaufhoͤrlich gebiert; eines aͤhnlichen Avanturiers, wie der obige iſt.

Und ſo ein fruchtbarer Poet, ſo ein Jnpromptuͤ Dichter wuͤrde er ſchwerlich ſeyn,
wenn ſeine Stirne perpendiculaͤr waͤre.

Eine gewiſſe Art unvergleichbaren Genies hat er gewiß, und zugleich jenen Leichtſinn
und jenen Muth, der ſich durch alles durchſchlaͤgt, jenen Reichthum der Jdeen, der nie er-
ſchoͤpft wird, und jene Aufgeſchloſſenheit, die ſich immer ergießt, und ſobald ſie ſich ergoſſen, faßt
er ganze vermiſchte Haufen ihm begegnender, oder vorbeyfliehender, oder in der Fern erblickter
Jdeen wieder auf.

Ein Mann, der immer erblickt, ſelten ſieht, nie beobachtet.

Alle
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[232/0350] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen AA. Drey Profilkoͤpfe. Die obern zwey Profile ſtellen, wie man leicht ſehen wird, daſſelbe Geſicht vor — einen un- beſchreiblich originalen Gaſkonier, den heiterſten, froͤhlichſten, witzreichſten und dabey determinir- teſten Kopf, den ich in meinem Leben geſehen! Der leichteſte, frohmuͤthigſte Avanturier; heut ein Soldat; morgen ein Schiffmann, uͤbermorgen ein Sklave, dann ein Verurtheilter — nun ein Sprachmeiſter, dann ein Cammerdiener, am meiſten und gewoͤhnlichſten aber ein gewaltiger Jaͤger, ders ſo frey vom Herzen weg geſteht, daß er keine Viertelſtunde ſitzen koͤnne; daß hin- und herlaufen, und alles pruͤfen, und alles leiden, und alles ſeyn, und nichts bleiben, ſeine hoͤchſte Freude ſey. — Leute mit ſo zuruͤckgehenden Stirnen und ſolchen Augenbraunen hab ich großentheils witzreich, lebhaft, jovialiſch gefunden, und dieſe Laͤnge des Palliums der Zaͤhne, der Oberlippe, noch an keinem Menſchen wahrgenommen, der mehr kalten Verſtand, als Einbildungskraft hatte. Und nun noch ein Wort von der Verſchiedenheit dieſer beyden Geſichter. Das weniger hervordringende Auge des erſten iſt wahrer, weiſer, edler und aufrichtiger, als des zweyten. Die dritte Figur iſt ebenfalls eines beſonderen Mannes, — eines Verſeſchoͤpfers, der unaufhoͤrlich empfaͤngt, und unaufhoͤrlich gebiert; eines aͤhnlichen Avanturiers, wie der obige iſt. Und ſo ein fruchtbarer Poet, ſo ein Jnpromptuͤ Dichter wuͤrde er ſchwerlich ſeyn, wenn ſeine Stirne perpendiculaͤr waͤre. Eine gewiſſe Art unvergleichbaren Genies hat er gewiß, und zugleich jenen Leichtſinn und jenen Muth, der ſich durch alles durchſchlaͤgt, jenen Reichthum der Jdeen, der nie er- ſchoͤpft wird, und jene Aufgeſchloſſenheit, die ſich immer ergießt, und ſobald ſie ſich ergoſſen, faßt er ganze vermiſchte Haufen ihm begegnender, oder vorbeyfliehender, oder in der Fern erblickter Jdeen wieder auf. Ein Mann, der immer erblickt, ſelten ſieht, nie beobachtet. Alle

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/350>, abgerufen am 05.10.2024.