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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
BB.
Kleinjogg.

Sollte nicht auch ein Porträt von einer ganz schönen, ganz edlen Seele unter die Uebungen
in diesem Fragmente gehören? Ja wär's nicht am besten gewesen, statt aller Jdeale bloße
Porträte im ganzen Buche vorzulegen, um die Harmonie physischer und moralischer Schönheit
und Schlechtigkeit außer allen Zweifel zu setzen? -- um alle physiognomische Kenntnisse blos
auf unmittelbare Erfahrungen zu gründen? ... Ja, mein Freund, aber Porträte von schlech-
ten Menschen würden beleidigen -- und Porträte von guten, stolz machen? Das will ich eben
nicht sagen! -- aber -- man kann sie nicht machen. Das Schönste wird schlecht auf dem Pa-
pier! Welch ein Unterschied, das bewegsamste Fleisch und das harte und zähe Kupfer! Welch
ein Unterschied, die Wölbung eines Muskels, der aus wallendem Licht und Schatten zusammen-
schmelzende Zug der Augen oder der Lippen -- und eine, wie mit einer Pflugschaar gezogene,
oder mit einschneidendem Aezwasser ausgefressene Furche! -- und dann noch Leben und -- Leb-
losigkeit! Ein Punkt, und Millionen sich fortwälzende Punkte. --

Daß man eigentlich gar kein Menschengesicht ganz richtig zeichnen kann, so wenig
sich der Character eines Menschen von irgend einem Menschen richtig beschreiben läßt -- das ist
bey mir die ausgemachteste Sache von der Welt.

Je originaler ein Mensch ist, desto weniger ist sein Gesicht zu zeichnen; sein Character
zu beschreiben; obgleich sich vielmehr von ihm zeichnen, gewiß mehr von ihm erzählen läßt, als
von tausend Alltagsgesichtern und gemeinen Charactern.

Man könnte es fast als eine Regel annehmen: Je mehr von einem Menschen ge-
sagt werden kann, desto weniger kann von ihm gesagt werden.
So, wie's, bey mir
wenigstens, ausgemachte Wahrheit ist -- Je mehr du Gott kennest, desto mehr weißt
du, daß du Jhn noch nicht kennest. -- Je mehr man von deinem Herzen Gutes zu
erzählen weiß, desto mehr Gutes ist unerzählbar und -- desto mehr Böses!
-- Je
herrlicher ein Menschengesicht, desto unnachahmlicher.

Und nun auf Kleinjogg, oder den philosophischen Bauer! Gerade so ein Gesicht!
Gerad ein solcher Character!

Wenn Herr Hirzel kein Verdienst hätte (und er hat so viele erkannte und unerkannte!)
als daß er den philosophischen Bauren geschrieben, oder wie ich lieber sagen will, diesen
Mann saisirt und emfindbar gemacht hat, der so ganz Mensch ist, so würde sein Verdienst

schon
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
BB.
Kleinjogg.

Sollte nicht auch ein Portraͤt von einer ganz ſchoͤnen, ganz edlen Seele unter die Uebungen
in dieſem Fragmente gehoͤren? Ja waͤr's nicht am beſten geweſen, ſtatt aller Jdeale bloße
Portraͤte im ganzen Buche vorzulegen, um die Harmonie phyſiſcher und moraliſcher Schoͤnheit
und Schlechtigkeit außer allen Zweifel zu ſetzen? — um alle phyſiognomiſche Kenntniſſe blos
auf unmittelbare Erfahrungen zu gruͤnden? ... Ja, mein Freund, aber Portraͤte von ſchlech-
ten Menſchen wuͤrden beleidigen — und Portraͤte von guten, ſtolz machen? Das will ich eben
nicht ſagen! — aber — man kann ſie nicht machen. Das Schoͤnſte wird ſchlecht auf dem Pa-
pier! Welch ein Unterſchied, das bewegſamſte Fleiſch und das harte und zaͤhe Kupfer! Welch
ein Unterſchied, die Woͤlbung eines Muskels, der aus wallendem Licht und Schatten zuſammen-
ſchmelzende Zug der Augen oder der Lippen — und eine, wie mit einer Pflugſchaar gezogene,
oder mit einſchneidendem Aezwaſſer ausgefreſſene Furche! — und dann noch Leben und — Leb-
loſigkeit! Ein Punkt, und Millionen ſich fortwaͤlzende Punkte. —

Daß man eigentlich gar kein Menſchengeſicht ganz richtig zeichnen kann, ſo wenig
ſich der Character eines Menſchen von irgend einem Menſchen richtig beſchreiben laͤßt — das iſt
bey mir die ausgemachteſte Sache von der Welt.

Je originaler ein Menſch iſt, deſto weniger iſt ſein Geſicht zu zeichnen; ſein Character
zu beſchreiben; obgleich ſich vielmehr von ihm zeichnen, gewiß mehr von ihm erzaͤhlen laͤßt, als
von tauſend Alltagsgeſichtern und gemeinen Charactern.

Man koͤnnte es faſt als eine Regel annehmen: Je mehr von einem Menſchen ge-
ſagt werden kann, deſto weniger kann von ihm geſagt werden.
So, wie's, bey mir
wenigſtens, ausgemachte Wahrheit iſt — Je mehr du Gott kenneſt, deſto mehr weißt
du, daß du Jhn noch nicht kenneſt. — Je mehr man von deinem Herzen Gutes zu
erzaͤhlen weiß, deſto mehr Gutes iſt unerzaͤhlbar und — deſto mehr Boͤſes!
— Je
herrlicher ein Menſchengeſicht, deſto unnachahmlicher.

Und nun auf Kleinjogg, oder den philoſophiſchen Bauer! Gerade ſo ein Geſicht!
Gerad ein ſolcher Character!

Wenn Herr Hirzel kein Verdienſt haͤtte (und er hat ſo viele erkannte und unerkannte!)
als daß er den philoſophiſchen Bauren geſchrieben, oder wie ich lieber ſagen will, dieſen
Mann ſaiſirt und emfindbar gemacht hat, der ſo ganz Menſch iſt, ſo wuͤrde ſein Verdienſt

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[234/0354] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen BB. Kleinjogg. Sollte nicht auch ein Portraͤt von einer ganz ſchoͤnen, ganz edlen Seele unter die Uebungen in dieſem Fragmente gehoͤren? Ja waͤr's nicht am beſten geweſen, ſtatt aller Jdeale bloße Portraͤte im ganzen Buche vorzulegen, um die Harmonie phyſiſcher und moraliſcher Schoͤnheit und Schlechtigkeit außer allen Zweifel zu ſetzen? — um alle phyſiognomiſche Kenntniſſe blos auf unmittelbare Erfahrungen zu gruͤnden? ... Ja, mein Freund, aber Portraͤte von ſchlech- ten Menſchen wuͤrden beleidigen — und Portraͤte von guten, ſtolz machen? Das will ich eben nicht ſagen! — aber — man kann ſie nicht machen. Das Schoͤnſte wird ſchlecht auf dem Pa- pier! Welch ein Unterſchied, das bewegſamſte Fleiſch und das harte und zaͤhe Kupfer! Welch ein Unterſchied, die Woͤlbung eines Muskels, der aus wallendem Licht und Schatten zuſammen- ſchmelzende Zug der Augen oder der Lippen — und eine, wie mit einer Pflugſchaar gezogene, oder mit einſchneidendem Aezwaſſer ausgefreſſene Furche! — und dann noch Leben und — Leb- loſigkeit! Ein Punkt, und Millionen ſich fortwaͤlzende Punkte. — Daß man eigentlich gar kein Menſchengeſicht ganz richtig zeichnen kann, ſo wenig ſich der Character eines Menſchen von irgend einem Menſchen richtig beſchreiben laͤßt — das iſt bey mir die ausgemachteſte Sache von der Welt. Je originaler ein Menſch iſt, deſto weniger iſt ſein Geſicht zu zeichnen; ſein Character zu beſchreiben; obgleich ſich vielmehr von ihm zeichnen, gewiß mehr von ihm erzaͤhlen laͤßt, als von tauſend Alltagsgeſichtern und gemeinen Charactern. Man koͤnnte es faſt als eine Regel annehmen: Je mehr von einem Menſchen ge- ſagt werden kann, deſto weniger kann von ihm geſagt werden. So, wie's, bey mir wenigſtens, ausgemachte Wahrheit iſt — Je mehr du Gott kenneſt, deſto mehr weißt du, daß du Jhn noch nicht kenneſt. — Je mehr man von deinem Herzen Gutes zu erzaͤhlen weiß, deſto mehr Gutes iſt unerzaͤhlbar und — deſto mehr Boͤſes! — Je herrlicher ein Menſchengeſicht, deſto unnachahmlicher. Und nun auf Kleinjogg, oder den philoſophiſchen Bauer! Gerade ſo ein Geſicht! Gerad ein ſolcher Character! Wenn Herr Hirzel kein Verdienſt haͤtte (und er hat ſo viele erkannte und unerkannte!) als daß er den philoſophiſchen Bauren geſchrieben, oder wie ich lieber ſagen will, dieſen Mann ſaiſirt und emfindbar gemacht hat, der ſo ganz Menſch iſt, ſo wuͤrde ſein Verdienſt ſchon

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/354>, abgerufen am 29.03.2024.