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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Physiognomische Uebungen
NN.
Ein Religiose.

Um die Bilder so mannichfaltig, wie möglich zu machen; um aus allen, allen Classen, allen
Ständen der Menschen, einige meinen Lesern vorzulegen -- wählt ich auch einen mir genau be-
kannten Mönchen.

Aehnliche Porträte, zumal so bloße, deren ganzer Umriß so leicht nachgeahmt werden kann,
von Menschen, deren Character uns ohn' ihr Gesicht vollkommen bekannt ist, werden wohl jeder-
zeit der wichtigste Beytrag zur Physiognomik seyn.

Jch kann nicht sagen, daß das Bild, so wir vor Augen haben, ohne Fehler sey; so viel
aber ist gewiß, daß es außerordentlich kennbar ist, und daß es in mancher Absicht unsere Aufmerk-
samkeit verdient.

Dieser Mann ist eine der redlichsten, freymüthigsten, heitersten, dienstfertigsten Seelen!
Ein gutes, nichts weniger als dummes, nein ein heiteres gesunddenkendes Kind; aber Kind, in
einem liebenswürdigen Grade! -- Erzogen inner Mauren eines weitberühmten Closters -- kennt
es, dieß gute Kind, keine Welt als die siebenzig oder achtzig geistlichen Uniformen, unter einem gnä-
digstgebietenden Oberhaupte, dem es gehorcht, wie ein Sclav, und den es liebet, wie einen Herzens-
freund -- und worüber ihr erstaunen werdet, dieser Einschränkung ungeachtet -- die freyste, offen-
ste, weiteste Seele, die Euch mit aller ihrer Liebe entgegen wallt -- obgleich ihre Religion sie Euch
verdammen lehrt. Nein -- sie verdammt Euch nicht; sie seufzet nicht heimlich: "Schade für die
"schöne Seele!" und doch -- welch ein Glaube an ihre Religion! -- Wie der Verstand ge-
arbeitet hat, sich alles heiter und srey zu denken, was jedem andern undenkbar scheint! wie sie
Standpunkte gefunden hat, wo sie fest auf ihrem Glauben ruhen -- und dennoch mit heiterer
unverdammender Freyheit in die herrliche Welt Gottes, voll Gottes lieber Menschen hinaus-
schauen kann -- -- Wie ich sie liebe, diese starke fromme Unschuld! dieses Mönchsideal! diesen
ganzen Menschen in seinem so trefflich ihm stehenden Ordenskleide! wie ich mich ihm so gern
vertraue! wie so ohne Zwang, ohne Widerspruch ich mich ihm mittheilen, ich ihm beichten
würde!

-- Wie sein Verstand, seine Wissenschaft und sein Herz in der besten gemeinnützigsten
Harmonie sind!

Seine, in diesem Bilde nicht vollkommen ausgedrückte Stirn, ist vorneherum merkwür-
dig gewölbt, daß sie von oben herab betrachtet im Grunde nicht hohl, nicht platt, sondern bey-

nahe
XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
NN.
Ein Religioſe.

Um die Bilder ſo mannichfaltig, wie moͤglich zu machen; um aus allen, allen Claſſen, allen
Staͤnden der Menſchen, einige meinen Leſern vorzulegen — waͤhlt ich auch einen mir genau be-
kannten Moͤnchen.

Aehnliche Portraͤte, zumal ſo bloße, deren ganzer Umriß ſo leicht nachgeahmt werden kann,
von Menſchen, deren Character uns ohn' ihr Geſicht vollkommen bekannt iſt, werden wohl jeder-
zeit der wichtigſte Beytrag zur Phyſiognomik ſeyn.

Jch kann nicht ſagen, daß das Bild, ſo wir vor Augen haben, ohne Fehler ſey; ſo viel
aber iſt gewiß, daß es außerordentlich kennbar iſt, und daß es in mancher Abſicht unſere Aufmerk-
ſamkeit verdient.

Dieſer Mann iſt eine der redlichſten, freymuͤthigſten, heiterſten, dienſtfertigſten Seelen!
Ein gutes, nichts weniger als dummes, nein ein heiteres geſunddenkendes Kind; aber Kind, in
einem liebenswuͤrdigen Grade! — Erzogen inner Mauren eines weitberuͤhmten Cloſters — kennt
es, dieß gute Kind, keine Welt als die ſiebenzig oder achtzig geiſtlichen Uniformen, unter einem gnaͤ-
digſtgebietenden Oberhaupte, dem es gehorcht, wie ein Sclav, und den es liebet, wie einen Herzens-
freund — und woruͤber ihr erſtaunen werdet, dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet — die freyſte, offen-
ſte, weiteſte Seele, die Euch mit aller ihrer Liebe entgegen wallt — obgleich ihre Religion ſie Euch
verdammen lehrt. Nein — ſie verdammt Euch nicht; ſie ſeufzet nicht heimlich: „Schade fuͤr die
„ſchoͤne Seele!“ und doch — welch ein Glaube an ihre Religion! — Wie der Verſtand ge-
arbeitet hat, ſich alles heiter und ſrey zu denken, was jedem andern undenkbar ſcheint! wie ſie
Standpunkte gefunden hat, wo ſie feſt auf ihrem Glauben ruhen — und dennoch mit heiterer
unverdammender Freyheit in die herrliche Welt Gottes, voll Gottes lieber Menſchen hinaus-
ſchauen kann — — Wie ich ſie liebe, dieſe ſtarke fromme Unſchuld! dieſes Moͤnchsideal! dieſen
ganzen Menſchen in ſeinem ſo trefflich ihm ſtehenden Ordenskleide! wie ich mich ihm ſo gern
vertraue! wie ſo ohne Zwang, ohne Widerſpruch ich mich ihm mittheilen, ich ihm beichten
wuͤrde!

— Wie ſein Verſtand, ſeine Wiſſenſchaft und ſein Herz in der beſten gemeinnuͤtzigſten
Harmonie ſind!

Seine, in dieſem Bilde nicht vollkommen ausgedruͤckte Stirn, iſt vorneherum merkwuͤr-
dig gewoͤlbt, daß ſie von oben herab betrachtet im Grunde nicht hohl, nicht platt, ſondern bey-

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[260/0414] XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen NN. Ein Religioſe. Um die Bilder ſo mannichfaltig, wie moͤglich zu machen; um aus allen, allen Claſſen, allen Staͤnden der Menſchen, einige meinen Leſern vorzulegen — waͤhlt ich auch einen mir genau be- kannten Moͤnchen. Aehnliche Portraͤte, zumal ſo bloße, deren ganzer Umriß ſo leicht nachgeahmt werden kann, von Menſchen, deren Character uns ohn' ihr Geſicht vollkommen bekannt iſt, werden wohl jeder- zeit der wichtigſte Beytrag zur Phyſiognomik ſeyn. Jch kann nicht ſagen, daß das Bild, ſo wir vor Augen haben, ohne Fehler ſey; ſo viel aber iſt gewiß, daß es außerordentlich kennbar iſt, und daß es in mancher Abſicht unſere Aufmerk- ſamkeit verdient. Dieſer Mann iſt eine der redlichſten, freymuͤthigſten, heiterſten, dienſtfertigſten Seelen! Ein gutes, nichts weniger als dummes, nein ein heiteres geſunddenkendes Kind; aber Kind, in einem liebenswuͤrdigen Grade! — Erzogen inner Mauren eines weitberuͤhmten Cloſters — kennt es, dieß gute Kind, keine Welt als die ſiebenzig oder achtzig geiſtlichen Uniformen, unter einem gnaͤ- digſtgebietenden Oberhaupte, dem es gehorcht, wie ein Sclav, und den es liebet, wie einen Herzens- freund — und woruͤber ihr erſtaunen werdet, dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet — die freyſte, offen- ſte, weiteſte Seele, die Euch mit aller ihrer Liebe entgegen wallt — obgleich ihre Religion ſie Euch verdammen lehrt. Nein — ſie verdammt Euch nicht; ſie ſeufzet nicht heimlich: „Schade fuͤr die „ſchoͤne Seele!“ und doch — welch ein Glaube an ihre Religion! — Wie der Verſtand ge- arbeitet hat, ſich alles heiter und ſrey zu denken, was jedem andern undenkbar ſcheint! wie ſie Standpunkte gefunden hat, wo ſie feſt auf ihrem Glauben ruhen — und dennoch mit heiterer unverdammender Freyheit in die herrliche Welt Gottes, voll Gottes lieber Menſchen hinaus- ſchauen kann — — Wie ich ſie liebe, dieſe ſtarke fromme Unſchuld! dieſes Moͤnchsideal! dieſen ganzen Menſchen in ſeinem ſo trefflich ihm ſtehenden Ordenskleide! wie ich mich ihm ſo gern vertraue! wie ſo ohne Zwang, ohne Widerſpruch ich mich ihm mittheilen, ich ihm beichten wuͤrde! — Wie ſein Verſtand, ſeine Wiſſenſchaft und ſein Herz in der beſten gemeinnuͤtzigſten Harmonie ſind! Seine, in dieſem Bilde nicht vollkommen ausgedruͤckte Stirn, iſt vorneherum merkwuͤr- dig gewoͤlbt, daß ſie von oben herab betrachtet im Grunde nicht hohl, nicht platt, ſondern bey- nahe

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/414>, abgerufen am 19.04.2024.