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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IV. Fragment. Einige Zeugnisse
"für gemeine, unachtsame Menschen nichts, das sie zur Aufmerksamkeit reizet. Wer aber über
"das Vorurtheil der Gewohnheit sich nur einigermaßen wegsetzen, und beständig vorkommende
"Gegenstände noch mit Aufmerksamkeit und Nachdenken ansehen kann, dem ist jede Physiognomie
"ein merkwürdiger Gegenstand. Wie ungegründet den meisten Menschen die Physiognomik, oder
"die Wissenschaft aus dem Gesichte und der Gestalt des Menschen seinen Character zu erkennen,
"vorkommen mag: so ist doch nichts gewissers, als daß jeder aufmerksame und nur einigermaßen
"fühlende Mensch etwas von dieser Wissenschaft besitzt; indem er aus dem Gesicht und der übri-
"gen Gestalt des Menschen etwas von ihrem in demselben Augenblick vorhandenen Gemüthszu-
"stand mit Gewißheit erkennt. Wir sagen oft mit der größten Zuversicht, ein Mensch sey traurig,
"fröhlich, nachdenkend, unruhig, furchtsam u. s. f. auf das bloße Zeugniß seines Gesichtes, und
"würden uns sehr drüber verwundern, wenn jemand uns darinn widersprechen wollte. Nichts
"ist also gewisser, als dieses, daß wir aus der Gestalt der Menschen, vorzüglich aus ihrer Gesichts-
"bildung, etwas von dem erkennen, was in ihrer Seele vorgeht. Wir sehen die Seele in
"dem Körper.
Aus diesem Grunde können wir sagen: Der Körper sey das Bild der
"Seele,
oder die Seele selbst sichtbar gemacht" -- Allgemeine Theorie der schönen Kün-
ste.
II. Th. Art. Porträt.
11.
Wolf.

"Wir wissen, daß nichts in der Seele vorgehet, dem nicht eine Veränderung im Leibe
"zuträfe, absonderlich aber keine Begierden in der Seele hervorkommen, auch kein Wollen in ihr
"entsteht, wo nicht zugleich eine ihnen gemäße Bewegung in dem Leibe zu gleicher Zeit erfolgte.
"Weil nun alle Veränderungen des Leibes aus seinem Wesen herkommen, das Wesen aber des
"Körpers in der Art der Zusammensetzung bestehet; so muß die Zusammensetzung des Leibes, fol-
"gends seine Gestalt, und die Gestalt der Gliedmaßen mit dem Wesen der Seele übereinkommen.
"Und solchergestalt muß sich der Unterschied der Gemüther durch den Unterschied der Leiber zeigen.
"Nämlich der Leib muß etwas in sich haben, sowohl in seiner Gestalt, als in der Gestalt seiner
"Theile, daraus man die Beschaffenheit des Gemüthes von Natur abnehmen kann. Jch sage

"mit
IV. Fragment. Einige Zeugniſſe
„fuͤr gemeine, unachtſame Menſchen nichts, das ſie zur Aufmerkſamkeit reizet. Wer aber uͤber
„das Vorurtheil der Gewohnheit ſich nur einigermaßen wegſetzen, und beſtaͤndig vorkommende
„Gegenſtaͤnde noch mit Aufmerkſamkeit und Nachdenken anſehen kann, dem iſt jede Phyſiognomie
„ein merkwuͤrdiger Gegenſtand. Wie ungegruͤndet den meiſten Menſchen die Phyſiognomik, oder
„die Wiſſenſchaft aus dem Geſichte und der Geſtalt des Menſchen ſeinen Character zu erkennen,
„vorkommen mag: ſo iſt doch nichts gewiſſers, als daß jeder aufmerkſame und nur einigermaßen
„fuͤhlende Menſch etwas von dieſer Wiſſenſchaft beſitzt; indem er aus dem Geſicht und der uͤbri-
„gen Geſtalt des Menſchen etwas von ihrem in demſelben Augenblick vorhandenen Gemuͤthszu-
„ſtand mit Gewißheit erkennt. Wir ſagen oft mit der groͤßten Zuverſicht, ein Menſch ſey traurig,
„froͤhlich, nachdenkend, unruhig, furchtſam u. ſ. f. auf das bloße Zeugniß ſeines Geſichtes, und
„wuͤrden uns ſehr druͤber verwundern, wenn jemand uns darinn widerſprechen wollte. Nichts
„iſt alſo gewiſſer, als dieſes, daß wir aus der Geſtalt der Menſchen, vorzuͤglich aus ihrer Geſichts-
„bildung, etwas von dem erkennen, was in ihrer Seele vorgeht. Wir ſehen die Seele in
„dem Koͤrper.
Aus dieſem Grunde koͤnnen wir ſagen: Der Koͤrper ſey das Bild der
„Seele,
oder die Seele ſelbſt ſichtbar gemacht“ — Allgemeine Theorie der ſchoͤnen Kuͤn-
ſte.
II. Th. Art. Portraͤt.
11.
Wolf.

„Wir wiſſen, daß nichts in der Seele vorgehet, dem nicht eine Veraͤnderung im Leibe
„zutraͤfe, abſonderlich aber keine Begierden in der Seele hervorkommen, auch kein Wollen in ihr
„entſteht, wo nicht zugleich eine ihnen gemaͤße Bewegung in dem Leibe zu gleicher Zeit erfolgte.
„Weil nun alle Veraͤnderungen des Leibes aus ſeinem Weſen herkommen, das Weſen aber des
„Koͤrpers in der Art der Zuſammenſetzung beſtehet; ſo muß die Zuſammenſetzung des Leibes, fol-
„gends ſeine Geſtalt, und die Geſtalt der Gliedmaßen mit dem Weſen der Seele uͤbereinkommen.
„Und ſolchergeſtalt muß ſich der Unterſchied der Gemuͤther durch den Unterſchied der Leiber zeigen.
„Naͤmlich der Leib muß etwas in ſich haben, ſowohl in ſeiner Geſtalt, als in der Geſtalt ſeiner
„Theile, daraus man die Beſchaffenheit des Gemuͤthes von Natur abnehmen kann. Jch ſage

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[28/0052] IV. Fragment. Einige Zeugniſſe „fuͤr gemeine, unachtſame Menſchen nichts, das ſie zur Aufmerkſamkeit reizet. Wer aber uͤber „das Vorurtheil der Gewohnheit ſich nur einigermaßen wegſetzen, und beſtaͤndig vorkommende „Gegenſtaͤnde noch mit Aufmerkſamkeit und Nachdenken anſehen kann, dem iſt jede Phyſiognomie „ein merkwuͤrdiger Gegenſtand. Wie ungegruͤndet den meiſten Menſchen die Phyſiognomik, oder „die Wiſſenſchaft aus dem Geſichte und der Geſtalt des Menſchen ſeinen Character zu erkennen, „vorkommen mag: ſo iſt doch nichts gewiſſers, als daß jeder aufmerkſame und nur einigermaßen „fuͤhlende Menſch etwas von dieſer Wiſſenſchaft beſitzt; indem er aus dem Geſicht und der uͤbri- „gen Geſtalt des Menſchen etwas von ihrem in demſelben Augenblick vorhandenen Gemuͤthszu- „ſtand mit Gewißheit erkennt. Wir ſagen oft mit der groͤßten Zuverſicht, ein Menſch ſey traurig, „froͤhlich, nachdenkend, unruhig, furchtſam u. ſ. f. auf das bloße Zeugniß ſeines Geſichtes, und „wuͤrden uns ſehr druͤber verwundern, wenn jemand uns darinn widerſprechen wollte. Nichts „iſt alſo gewiſſer, als dieſes, daß wir aus der Geſtalt der Menſchen, vorzuͤglich aus ihrer Geſichts- „bildung, etwas von dem erkennen, was in ihrer Seele vorgeht. Wir ſehen die Seele in „dem Koͤrper. Aus dieſem Grunde koͤnnen wir ſagen: Der Koͤrper ſey das Bild der „Seele, oder die Seele ſelbſt ſichtbar gemacht“ — Allgemeine Theorie der ſchoͤnen Kuͤn- ſte. II. Th. Art. Portraͤt. 11. Wolf. „Wir wiſſen, daß nichts in der Seele vorgehet, dem nicht eine Veraͤnderung im Leibe „zutraͤfe, abſonderlich aber keine Begierden in der Seele hervorkommen, auch kein Wollen in ihr „entſteht, wo nicht zugleich eine ihnen gemaͤße Bewegung in dem Leibe zu gleicher Zeit erfolgte. „Weil nun alle Veraͤnderungen des Leibes aus ſeinem Weſen herkommen, das Weſen aber des „Koͤrpers in der Art der Zuſammenſetzung beſtehet; ſo muß die Zuſammenſetzung des Leibes, fol- „gends ſeine Geſtalt, und die Geſtalt der Gliedmaßen mit dem Weſen der Seele uͤbereinkommen. „Und ſolchergeſtalt muß ſich der Unterſchied der Gemuͤther durch den Unterſchied der Leiber zeigen. „Naͤmlich der Leib muß etwas in ſich haben, ſowohl in ſeiner Geſtalt, als in der Geſtalt ſeiner „Theile, daraus man die Beſchaffenheit des Gemuͤthes von Natur abnehmen kann. Jch ſage „mit

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/52>, abgerufen am 28.03.2024.