Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Fragment.
Ueber die menschliche Natur
.

Das allerwichtigste und bemerkenswürdigste Wesen, das sich auf Erden unserer Beobachtung
darstellt -- -- ist der Mensch. Auf jeder Seite möcht' ich dieses sagen: -- welchem Menschen
der Mensch, wem seine Menschheit nicht das Wichtigste ist -- der hört auf, ein Mensch
zu seyn.
Vollkommneres, Höheres hat die Natur nichts aufzuweisen -- Der würdigste Ge-
genstand der Beobachtung -- und der einzige Beobachter -- ist der Mensch.

So wie sich der Mensch uns darstellt, ist er ein in die Sinne fallendes, ein physisches
Wesen. So wie er nur durch die Sinne erkennt, so kann er nur durch die Sinne erkannt
werden.

Der Mensch hat das mit allen Dingen in der Welt gemein -- daß gewisse Seiten, ge-
wisse Theile an ihm zum Vorschein kommen, gewisse nicht; daß man etwas von ihm vermittelst
der Sinne wahrnimmt, und etwas anderes, das auch zu seiner Natur gehört, nicht unmittel-
bar, vermittelst der Sinne wahrnehmen kann. Er besteht aus Oberfläche und Jnnhalt. Etwas
an ihm ist äußerlich, und etwas innerlich.

Dieß Aeußerliche und Jnnere stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusam-
menhange. Das Aeußerliche ist nichts, als die Endung, die Gränzen des Jnnern -- und das
Jnnre eine unmittelbare Fortsetzung des Aeußern.

Es ist also ein wesentliches Verhältniß zwischen seiner Außenseite, und seinem Jnn-
wendigen.

Der Mensch ist das vollkommenste aller, unsern Sinnen bekannten, organischen Wesen;
das lebendigste unter allen. Es sind in keinem einzigen organischen Wesen so mannichfaltige
Leben vereinigt, wie in dem Menschen. Er hat ein physisches, ein intellectuelles, ein mo-
ralisches
Leben. Er hat Verstand, Willen, Kraft. Er kann erkennen, das Erkannte wün-
schen
und verlangen -- und sich wenigstens einen großen Theil davon verschaffen. Dieß drey-
fache Leben im Menschen ist -- zwar aufs genauste, vereinigt, und vielleicht im Grunde nur

Eins;
Phys. Fragm. I. Versuch. F
Fuͤnftes Fragment.
Ueber die menſchliche Natur
.

Das allerwichtigſte und bemerkenswuͤrdigſte Weſen, das ſich auf Erden unſerer Beobachtung
darſtellt — — iſt der Menſch. Auf jeder Seite moͤcht' ich dieſes ſagen: — welchem Menſchen
der Menſch, wem ſeine Menſchheit nicht das Wichtigſte iſt — der hoͤrt auf, ein Menſch
zu ſeyn.
Vollkommneres, Hoͤheres hat die Natur nichts aufzuweiſen — Der wuͤrdigſte Ge-
genſtand der Beobachtung — und der einzige Beobachter — iſt der Menſch.

So wie ſich der Menſch uns darſtellt, iſt er ein in die Sinne fallendes, ein phyſiſches
Weſen. So wie er nur durch die Sinne erkennt, ſo kann er nur durch die Sinne erkannt
werden.

Der Menſch hat das mit allen Dingen in der Welt gemein — daß gewiſſe Seiten, ge-
wiſſe Theile an ihm zum Vorſchein kommen, gewiſſe nicht; daß man etwas von ihm vermittelſt
der Sinne wahrnimmt, und etwas anderes, das auch zu ſeiner Natur gehoͤrt, nicht unmittel-
bar, vermittelſt der Sinne wahrnehmen kann. Er beſteht aus Oberflaͤche und Jnnhalt. Etwas
an ihm iſt aͤußerlich, und etwas innerlich.

Dieß Aeußerliche und Jnnere ſtehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zuſam-
menhange. Das Aeußerliche iſt nichts, als die Endung, die Graͤnzen des Jnnern — und das
Jnnre eine unmittelbare Fortſetzung des Aeußern.

Es iſt alſo ein weſentliches Verhaͤltniß zwiſchen ſeiner Außenſeite, und ſeinem Jnn-
wendigen.

Der Menſch iſt das vollkommenſte aller, unſern Sinnen bekannten, organiſchen Weſen;
das lebendigſte unter allen. Es ſind in keinem einzigen organiſchen Weſen ſo mannichfaltige
Leben vereinigt, wie in dem Menſchen. Er hat ein phyſiſches, ein intellectuelles, ein mo-
raliſches
Leben. Er hat Verſtand, Willen, Kraft. Er kann erkennen, das Erkannte wuͤn-
ſchen
und verlangen — und ſich wenigſtens einen großen Theil davon verſchaffen. Dieß drey-
fache Leben im Menſchen iſt — zwar aufs genauſte, vereinigt, und vielleicht im Grunde nur

Eins;
Phyſ. Fragm. I. Verſuch. F
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0057" n="33"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Fu&#x0364;nftes Fragment.<lb/>
Ueber die men&#x017F;chliche Natur</hi>.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>as allerwichtig&#x017F;te und bemerkenswu&#x0364;rdig&#x017F;te We&#x017F;en, das &#x017F;ich auf Erden un&#x017F;erer Beobachtung<lb/>
dar&#x017F;tellt &#x2014; &#x2014; i&#x017F;t der <hi rendition="#fr">Men&#x017F;ch.</hi> Auf jeder Seite mo&#x0364;cht' ich die&#x017F;es &#x017F;agen: &#x2014; <hi rendition="#fr">welchem Men&#x017F;chen<lb/>
der Men&#x017F;ch, wem &#x017F;eine Men&#x017F;chheit nicht das Wichtig&#x017F;te i&#x017F;t &#x2014; der ho&#x0364;rt auf, ein Men&#x017F;ch<lb/>
zu &#x017F;eyn.</hi> Vollkommneres, Ho&#x0364;heres hat die Natur nichts aufzuwei&#x017F;en &#x2014; <hi rendition="#fr">Der wu&#x0364;rdig&#x017F;te Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand der Beobachtung &#x2014; und der einzige Beobachter &#x2014; i&#x017F;t der Men&#x017F;ch.</hi></p><lb/>
          <p>So wie &#x017F;ich der Men&#x017F;ch uns dar&#x017F;tellt, i&#x017F;t er ein in die Sinne fallendes, ein <hi rendition="#fr">phy&#x017F;i&#x017F;ches</hi><lb/>
We&#x017F;en. So wie er nur durch die Sinne erkennt, &#x017F;o kann er nur durch die Sinne erkannt<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p>Der Men&#x017F;ch hat das mit allen Dingen in der Welt gemein &#x2014; daß gewi&#x017F;&#x017F;e Seiten, ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e Theile an ihm zum Vor&#x017F;chein kommen, gewi&#x017F;&#x017F;e nicht; daß man etwas von ihm vermittel&#x017F;t<lb/>
der Sinne wahrnimmt, und etwas anderes, das auch zu &#x017F;einer Natur geho&#x0364;rt, nicht unmittel-<lb/>
bar, vermittel&#x017F;t der Sinne wahrnehmen kann. Er be&#x017F;teht aus Oberfla&#x0364;che und Jnnhalt. Etwas<lb/>
an ihm i&#x017F;t a&#x0364;ußerlich, und etwas innerlich.</p><lb/>
          <p>Dieß Aeußerliche und Jnnere &#x017F;tehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zu&#x017F;am-<lb/>
menhange. Das Aeußerliche i&#x017F;t nichts, als die Endung, die Gra&#x0364;nzen des Jnnern &#x2014; und das<lb/>
Jnnre eine unmittelbare Fort&#x017F;etzung des Aeußern.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t al&#x017F;o ein we&#x017F;entliches Verha&#x0364;ltniß zwi&#x017F;chen &#x017F;einer Außen&#x017F;eite, und &#x017F;einem Jnn-<lb/>
wendigen.</p><lb/>
          <p>Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t das vollkommen&#x017F;te aller, un&#x017F;ern Sinnen bekannten, organi&#x017F;chen We&#x017F;en;<lb/>
das lebendig&#x017F;te unter allen. Es &#x017F;ind in keinem einzigen organi&#x017F;chen We&#x017F;en &#x017F;o mannichfaltige<lb/>
Leben vereinigt, wie in dem Men&#x017F;chen. Er hat ein <hi rendition="#fr">phy&#x017F;i&#x017F;ches,</hi> ein <hi rendition="#fr">intellectuelles,</hi> ein <hi rendition="#fr">mo-<lb/>
rali&#x017F;ches</hi> Leben. Er hat Ver&#x017F;tand, Willen, Kraft. Er kann <hi rendition="#fr">erkennen,</hi> das Erkannte <hi rendition="#fr">wu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;chen</hi> und <hi rendition="#fr">verlangen</hi> &#x2014; und &#x017F;ich wenig&#x017F;tens einen großen Theil davon <hi rendition="#fr">ver&#x017F;chaffen.</hi> Dieß drey-<lb/>
fache Leben im Men&#x017F;chen i&#x017F;t &#x2014; zwar aufs genau&#x017F;te, vereinigt, und vielleicht im Grunde nur<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> F</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Eins;</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0057] Fuͤnftes Fragment. Ueber die menſchliche Natur. Das allerwichtigſte und bemerkenswuͤrdigſte Weſen, das ſich auf Erden unſerer Beobachtung darſtellt — — iſt der Menſch. Auf jeder Seite moͤcht' ich dieſes ſagen: — welchem Menſchen der Menſch, wem ſeine Menſchheit nicht das Wichtigſte iſt — der hoͤrt auf, ein Menſch zu ſeyn. Vollkommneres, Hoͤheres hat die Natur nichts aufzuweiſen — Der wuͤrdigſte Ge- genſtand der Beobachtung — und der einzige Beobachter — iſt der Menſch. So wie ſich der Menſch uns darſtellt, iſt er ein in die Sinne fallendes, ein phyſiſches Weſen. So wie er nur durch die Sinne erkennt, ſo kann er nur durch die Sinne erkannt werden. Der Menſch hat das mit allen Dingen in der Welt gemein — daß gewiſſe Seiten, ge- wiſſe Theile an ihm zum Vorſchein kommen, gewiſſe nicht; daß man etwas von ihm vermittelſt der Sinne wahrnimmt, und etwas anderes, das auch zu ſeiner Natur gehoͤrt, nicht unmittel- bar, vermittelſt der Sinne wahrnehmen kann. Er beſteht aus Oberflaͤche und Jnnhalt. Etwas an ihm iſt aͤußerlich, und etwas innerlich. Dieß Aeußerliche und Jnnere ſtehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zuſam- menhange. Das Aeußerliche iſt nichts, als die Endung, die Graͤnzen des Jnnern — und das Jnnre eine unmittelbare Fortſetzung des Aeußern. Es iſt alſo ein weſentliches Verhaͤltniß zwiſchen ſeiner Außenſeite, und ſeinem Jnn- wendigen. Der Menſch iſt das vollkommenſte aller, unſern Sinnen bekannten, organiſchen Weſen; das lebendigſte unter allen. Es ſind in keinem einzigen organiſchen Weſen ſo mannichfaltige Leben vereinigt, wie in dem Menſchen. Er hat ein phyſiſches, ein intellectuelles, ein mo- raliſches Leben. Er hat Verſtand, Willen, Kraft. Er kann erkennen, das Erkannte wuͤn- ſchen und verlangen — und ſich wenigſtens einen großen Theil davon verſchaffen. Dieß drey- fache Leben im Menſchen iſt — zwar aufs genauſte, vereinigt, und vielleicht im Grunde nur Eins; Phyſ. Fragm. I. Verſuch. F

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/57
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/57>, abgerufen am 07.10.2024.