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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten überhaupt.
vollkommenes Kind -- aber kein vollkommener Mann. Es läßt sich also immer sagen: "Es
fehlt ihm zur Vollkommenheit eines Mannes noch dieß oder jenes." Der Lasterhafte ist ein voll-
kommener Lasterhafter -- und im Zusammenhange aller Dinge, im Plan des höchstweisen --
ein sehr wesentlicher Ring in der großen Kette der Wesen -- denn -- Er ist; und was ist,
ist nach dem Plane des Höchstweisen. Aber der Lasterhafte ist kein Tugendhafter. Der Böse ist
nicht gut, obgleich es gut ist, daß der Böse sey -- Es läßt sich also immer sagen: "Es fehlt
ihm zur Vollkommenheit eines Tugendhaften sehr vieles." --

Oder: ein Wesen ist nicht das, was ein anderes seiner Art ist. Das thörichte Kind ist
nicht das weise; das tugendhafte nicht lasterhaft. Jegliches aus seinem Zusammenhange heraus-
genommen -- in welchem es ganz anders, als außer demselben beurtheilt werden müßte -- aus
dem Zusammenhange, in dem es das ist, was es nach der Absicht des Vaters aller -- der auf Mil-
lionen Wegen -- alles zur Vollkommenheit leitet -- seyn soll -- Jegliches, aus seinem Zusam-
menhange herausgenommen, sag' ich, und -- beyde neben einander gestellt, läßt sich sagen --
das eine ist schön, das andere heßlich -- das eine ist vollkommener oder unvollkommener, als das
andere, das eine liebenswürdig, das andere abscheulich.

Aber, wie nun? Soll der Naturforscher, der Menschenbeobachter -- sich mit den Voll-
kommenheiten, oder Unvollkommenheiten der menschlichen Natur oder mit beyden zugleich beschäff-
tigen? Mich dünkt -- Er soll alles beobachten, was ihm vorkommt, das Schöne wie das
Schlechte, das Schlechte wie das Schöne; -- aber -- er soll sich bey dem Schönen und Voll-
kommenen lieber verweilen -- das Schöne und Vollkommene sich und andern lieber vorzeichnen
und analysiren. Wer das Schöne kennt -- wird von selbst das Schlechte kennen lernen: aber
nicht allemal wird der, der das Schlechte kennt, deswegen wissen, was schön ist. Wer immer nur
die besten und niedlichsten Speisen genießt, wird wenig Geschmack an den schlechten finden. Wer
sich aber an rohe starke Speisen gewöhnt hat, wird nicht so leicht an delikaten Geschmack finden.
Es ist freylich leichter, Schwachheiten, Unvollkommenheiten, Fehler und Laster an seinen Neben-
geschöpfen zu entdecken, als Schönheiten, Vollkommenheiten, Ebenmaß und Tugenden.

Jede

der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.
vollkommenes Kind — aber kein vollkommener Mann. Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es
fehlt ihm zur Vollkommenheit eines Mannes noch dieß oder jenes.“ Der Laſterhafte iſt ein voll-
kommener Laſterhafter — und im Zuſammenhange aller Dinge, im Plan des hoͤchſtweiſen —
ein ſehr weſentlicher Ring in der großen Kette der Weſen — denn — Er iſt; und was iſt,
iſt nach dem Plane des Hoͤchſtweiſen. Aber der Laſterhafte iſt kein Tugendhafter. Der Boͤſe iſt
nicht gut, obgleich es gut iſt, daß der Boͤſe ſey — Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es fehlt
ihm zur Vollkommenheit eines Tugendhaften ſehr vieles.“ —

Oder: ein Weſen iſt nicht das, was ein anderes ſeiner Art iſt. Das thoͤrichte Kind iſt
nicht das weiſe; das tugendhafte nicht laſterhaft. Jegliches aus ſeinem Zuſammenhange heraus-
genommen — in welchem es ganz anders, als außer demſelben beurtheilt werden muͤßte — aus
dem Zuſammenhange, in dem es das iſt, was es nach der Abſicht des Vaters aller — der auf Mil-
lionen Wegen — alles zur Vollkommenheit leitet — ſeyn ſoll — Jegliches, aus ſeinem Zuſam-
menhange herausgenommen, ſag' ich, und — beyde neben einander geſtellt, laͤßt ſich ſagen —
das eine iſt ſchoͤn, das andere heßlich — das eine iſt vollkommener oder unvollkommener, als das
andere, das eine liebenswuͤrdig, das andere abſcheulich.

Aber, wie nun? Soll der Naturforſcher, der Menſchenbeobachter — ſich mit den Voll-
kommenheiten, oder Unvollkommenheiten der menſchlichen Natur oder mit beyden zugleich beſchaͤff-
tigen? Mich duͤnkt — Er ſoll alles beobachten, was ihm vorkommt, das Schoͤne wie das
Schlechte, das Schlechte wie das Schoͤne; — aber — er ſoll ſich bey dem Schoͤnen und Voll-
kommenen lieber verweilen — das Schoͤne und Vollkommene ſich und andern lieber vorzeichnen
und analyſiren. Wer das Schoͤne kennt — wird von ſelbſt das Schlechte kennen lernen: aber
nicht allemal wird der, der das Schlechte kennt, deswegen wiſſen, was ſchoͤn iſt. Wer immer nur
die beſten und niedlichſten Speiſen genießt, wird wenig Geſchmack an den ſchlechten finden. Wer
ſich aber an rohe ſtarke Speiſen gewoͤhnt hat, wird nicht ſo leicht an delikaten Geſchmack finden.
Es iſt freylich leichter, Schwachheiten, Unvollkommenheiten, Fehler und Laſter an ſeinen Neben-
geſchoͤpfen zu entdecken, als Schoͤnheiten, Vollkommenheiten, Ebenmaß und Tugenden.

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[39/0063] der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt. vollkommenes Kind — aber kein vollkommener Mann. Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es fehlt ihm zur Vollkommenheit eines Mannes noch dieß oder jenes.“ Der Laſterhafte iſt ein voll- kommener Laſterhafter — und im Zuſammenhange aller Dinge, im Plan des hoͤchſtweiſen — ein ſehr weſentlicher Ring in der großen Kette der Weſen — denn — Er iſt; und was iſt, iſt nach dem Plane des Hoͤchſtweiſen. Aber der Laſterhafte iſt kein Tugendhafter. Der Boͤſe iſt nicht gut, obgleich es gut iſt, daß der Boͤſe ſey — Es laͤßt ſich alſo immer ſagen: „Es fehlt ihm zur Vollkommenheit eines Tugendhaften ſehr vieles.“ — Oder: ein Weſen iſt nicht das, was ein anderes ſeiner Art iſt. Das thoͤrichte Kind iſt nicht das weiſe; das tugendhafte nicht laſterhaft. Jegliches aus ſeinem Zuſammenhange heraus- genommen — in welchem es ganz anders, als außer demſelben beurtheilt werden muͤßte — aus dem Zuſammenhange, in dem es das iſt, was es nach der Abſicht des Vaters aller — der auf Mil- lionen Wegen — alles zur Vollkommenheit leitet — ſeyn ſoll — Jegliches, aus ſeinem Zuſam- menhange herausgenommen, ſag' ich, und — beyde neben einander geſtellt, laͤßt ſich ſagen — das eine iſt ſchoͤn, das andere heßlich — das eine iſt vollkommener oder unvollkommener, als das andere, das eine liebenswuͤrdig, das andere abſcheulich. Aber, wie nun? Soll der Naturforſcher, der Menſchenbeobachter — ſich mit den Voll- kommenheiten, oder Unvollkommenheiten der menſchlichen Natur oder mit beyden zugleich beſchaͤff- tigen? Mich duͤnkt — Er ſoll alles beobachten, was ihm vorkommt, das Schoͤne wie das Schlechte, das Schlechte wie das Schoͤne; — aber — er ſoll ſich bey dem Schoͤnen und Voll- kommenen lieber verweilen — das Schoͤne und Vollkommene ſich und andern lieber vorzeichnen und analyſiren. Wer das Schoͤne kennt — wird von ſelbſt das Schlechte kennen lernen: aber nicht allemal wird der, der das Schlechte kennt, deswegen wiſſen, was ſchoͤn iſt. Wer immer nur die beſten und niedlichſten Speiſen genießt, wird wenig Geſchmack an den ſchlechten finden. Wer ſich aber an rohe ſtarke Speiſen gewoͤhnt hat, wird nicht ſo leicht an delikaten Geſchmack finden. Es iſt freylich leichter, Schwachheiten, Unvollkommenheiten, Fehler und Laſter an ſeinen Neben- geſchoͤpfen zu entdecken, als Schoͤnheiten, Vollkommenheiten, Ebenmaß und Tugenden. Jede

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/63>, abgerufen am 19.04.2024.