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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten überhaupt.

Aber ja, wie Geheimnisse, die ihm eine Gottheit anvertrauet hat, und wie Sünden,
die man ihm unter dem heiligsten Siegel der Verschwiegenheit gebeichtet hat, wird er, in beson-
dern Fällen, seine unangenehmen Beobachtungen bey sich bewahren, und keinem, der sie zum
Schaden der menschlichen Gesellschaft mißbrauchen könnte, mittheilen.

Der Menschenfreund (der allerverschwendeteste Namen und die größte Seltenheit un-
ter den Menschen) wird immer lieber die Schönheiten, die Vollkommenheiten der menschlichen
Natur aufsuchen, wahrnehmen, entwickeln, bekannt machen, anpreisen, und die Aufmerksam-
keit der Menschen darauf lenken, als -- ihre Unvollkommenheiten.

Jst es gleich schwerer, Vollkommenheiten zu sehen, und zu entwickeln, so ist es doch
besser. Es ist besser, wenig Gutes und Nützliches, als viel Schlimmes und Schädliches zu
sagen. Und in einer Welt, wie die unsrige ist -- guter Gott, wer kann Unvollkommenhei-
ten bekannt machen, ohne mehr zu schaden, als zu nutzen? *)

[Abbildung]
Siebentes
*) Jch werde mich jedoch bisweilen, um den Ge-
gensatz sichtbarer zu machen, genöthiget sehen, theils
auf Haupttafeln, theils in Vignetten einige schwä-
chere und zerfallene Gesichter zu charakterisiren. Jm[Spaltenumbruch]
Ganzen aber wird jedem nicht blinden Leser, auf-
fallen müssen, daß dieß Werk mehr Vollkommenhei-
ten und Schönheiten aufsucht, als Häßlichkeit und
Fehler.
G 2
der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt.

Aber ja, wie Geheimniſſe, die ihm eine Gottheit anvertrauet hat, und wie Suͤnden,
die man ihm unter dem heiligſten Siegel der Verſchwiegenheit gebeichtet hat, wird er, in beſon-
dern Faͤllen, ſeine unangenehmen Beobachtungen bey ſich bewahren, und keinem, der ſie zum
Schaden der menſchlichen Geſellſchaft mißbrauchen koͤnnte, mittheilen.

Der Menſchenfreund (der allerverſchwendeteſte Namen und die groͤßte Seltenheit un-
ter den Menſchen) wird immer lieber die Schoͤnheiten, die Vollkommenheiten der menſchlichen
Natur aufſuchen, wahrnehmen, entwickeln, bekannt machen, anpreiſen, und die Aufmerkſam-
keit der Menſchen darauf lenken, als — ihre Unvollkommenheiten.

Jſt es gleich ſchwerer, Vollkommenheiten zu ſehen, und zu entwickeln, ſo iſt es doch
beſſer. Es iſt beſſer, wenig Gutes und Nuͤtzliches, als viel Schlimmes und Schaͤdliches zu
ſagen. Und in einer Welt, wie die unſrige iſt — guter Gott, wer kann Unvollkommenhei-
ten bekannt machen, ohne mehr zu ſchaden, als zu nutzen? *)

[Abbildung]
Siebentes
*) Jch werde mich jedoch bisweilen, um den Ge-
genſatz ſichtbarer zu machen, genoͤthiget ſehen, theils
auf Haupttafeln, theils in Vignetten einige ſchwaͤ-
chere und zerfallene Geſichter zu charakteriſiren. Jm[Spaltenumbruch]
Ganzen aber wird jedem nicht blinden Leſer, auf-
fallen muͤſſen, daß dieß Werk mehr Vollkommenhei-
ten und Schoͤnheiten aufſucht, als Haͤßlichkeit und
Fehler.
G 2
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[43/0067] der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt. Aber ja, wie Geheimniſſe, die ihm eine Gottheit anvertrauet hat, und wie Suͤnden, die man ihm unter dem heiligſten Siegel der Verſchwiegenheit gebeichtet hat, wird er, in beſon- dern Faͤllen, ſeine unangenehmen Beobachtungen bey ſich bewahren, und keinem, der ſie zum Schaden der menſchlichen Geſellſchaft mißbrauchen koͤnnte, mittheilen. Der Menſchenfreund (der allerverſchwendeteſte Namen und die groͤßte Seltenheit un- ter den Menſchen) wird immer lieber die Schoͤnheiten, die Vollkommenheiten der menſchlichen Natur aufſuchen, wahrnehmen, entwickeln, bekannt machen, anpreiſen, und die Aufmerkſam- keit der Menſchen darauf lenken, als — ihre Unvollkommenheiten. Jſt es gleich ſchwerer, Vollkommenheiten zu ſehen, und zu entwickeln, ſo iſt es doch beſſer. Es iſt beſſer, wenig Gutes und Nuͤtzliches, als viel Schlimmes und Schaͤdliches zu ſagen. Und in einer Welt, wie die unſrige iſt — guter Gott, wer kann Unvollkommenhei- ten bekannt machen, ohne mehr zu ſchaden, als zu nutzen? *) [Abbildung] Siebentes *) Jch werde mich jedoch bisweilen, um den Ge- genſatz ſichtbarer zu machen, genoͤthiget ſehen, theils auf Haupttafeln, theils in Vignetten einige ſchwaͤ- chere und zerfallene Geſichter zu charakteriſiren. Jm Ganzen aber wird jedem nicht blinden Leſer, auf- fallen muͤſſen, daß dieß Werk mehr Vollkommenhei- ten und Schoͤnheiten aufſucht, als Haͤßlichkeit und Fehler. G 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/67>, abgerufen am 19.04.2024.