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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Die Physiognomik eine Wissenschaft.
mik einwenden. Entweder wird er allen Wissenschaften diesen Namen absprechen, oder ihn der
Physiognomik so gut als einer andern geben müssen.

So bald eine Wahrheit oder eine Erkenntniß Zeichen hat, so bald ist sie wissenschaftlich,
und sie ist es so weit, so weit sie sich durch Worte, Bilder, Regeln, Bestimmungen mitthei-
len läßt. Es wird also blos darauf ankommen, ob sich der auffallende unläugbare Unterschied
der menschlichen Gesichtsbildungen und Gestalten -- nicht nur dunkel wahrnehmen, sondern
unter bestimmte Charactere, Zeichen, Ausdrücke bringen lasse? Ob gewisse Zeichen der Stärke
und der Schwäche, der Gesundheit und der Krankheit des Körpers, der Dummheit und des
Verstandes, der Großmuth und Niederträchtigkeit, der Tugend und des Lasters, u. s. f. sich
angeben und mittheilen lassen? -- Dieß ist bey der gegenwärtigen Frage der einzige Untersu-
chungspunkt. -- Dem muß es entweder an Logik, oder an Wahrheitsliebe fehlen, der statt
dieß zu untersuchen, wider die Physiognomik deklamirt; den Verfasser lächerlich macht, oder --
statt der Antwort auf die lichthellste Frage -- eine irgendwo aufgehaschte Lüge wider ihn --
erzählt, niederschreibt, drucken läßt, -- gemäß dem Geiste des Muthwillens, der in un-
serm Jahrhunderte so mächtig arbeitet, die getriebensten Bahnen durch Staubaufwühlung zu
bedecken! --

Was würdest du sagen, lieber Leser, wenn jemand Naturforschung, Arzneywissen-
schaft, Gottesgelehrsamkeit, Schönewissenschaft, -- u. s. w. außer das Gebiet der Wissenschaf-
ten verbannte -- deswegen, weil in jeder so viele unbearbeitete Felder voll Dämmerung,
Unsicherheit, Unbestimmtheit sind?

Nicht wahr, mein Freund, bis auf einen gewissen Grad kann der Physiker seine
klaren Wahrnehmungen verfolgen, sie zerlegen, sie in Worte kleiden und fortpflanzen; sagen:
"So und so hab ich geforscht! dieß und jenes beobachtet! so viel Beobachtungen gesammelt;
"so geschlossen -- den Weg bin ich gegangen, den gehe auch du!" -- Aber wird er das im-
merhin sagen können? Wird der feine Beobachtungsgeist nie zu solchen Beobachtungen vor-
"fliegen, die sich nicht mittheilen lassen? nie weiter sehen, als er dem, der ihm nachstrebt,
oder nachkriecht, zeigen und vorbuchstabieren kann? -- und ist deswegen die Physik weniger
Wissenschaft? -- -- Wie viel Vorempfindung der Wahrheit hatte Leibnitz, ehe Wolf die

Kreise,
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Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft.
mik einwenden. Entweder wird er allen Wiſſenſchaften dieſen Namen abſprechen, oder ihn der
Phyſiognomik ſo gut als einer andern geben muͤſſen.

So bald eine Wahrheit oder eine Erkenntniß Zeichen hat, ſo bald iſt ſie wiſſenſchaftlich,
und ſie iſt es ſo weit, ſo weit ſie ſich durch Worte, Bilder, Regeln, Beſtimmungen mitthei-
len laͤßt. Es wird alſo blos darauf ankommen, ob ſich der auffallende unlaͤugbare Unterſchied
der menſchlichen Geſichtsbildungen und Geſtalten — nicht nur dunkel wahrnehmen, ſondern
unter beſtimmte Charactere, Zeichen, Ausdruͤcke bringen laſſe? Ob gewiſſe Zeichen der Staͤrke
und der Schwaͤche, der Geſundheit und der Krankheit des Koͤrpers, der Dummheit und des
Verſtandes, der Großmuth und Niedertraͤchtigkeit, der Tugend und des Laſters, u. ſ. f. ſich
angeben und mittheilen laſſen? — Dieß iſt bey der gegenwaͤrtigen Frage der einzige Unterſu-
chungspunkt. — Dem muß es entweder an Logik, oder an Wahrheitsliebe fehlen, der ſtatt
dieß zu unterſuchen, wider die Phyſiognomik deklamirt; den Verfaſſer laͤcherlich macht, oder —
ſtatt der Antwort auf die lichthellſte Frage — eine irgendwo aufgehaſchte Luͤge wider ihn —
erzaͤhlt, niederſchreibt, drucken laͤßt, — gemaͤß dem Geiſte des Muthwillens, der in un-
ſerm Jahrhunderte ſo maͤchtig arbeitet, die getriebenſten Bahnen durch Staubaufwuͤhlung zu
bedecken! —

Was wuͤrdeſt du ſagen, lieber Leſer, wenn jemand Naturforſchung, Arzneywiſſen-
ſchaft, Gottesgelehrſamkeit, Schoͤnewiſſenſchaft, — u. ſ. w. außer das Gebiet der Wiſſenſchaf-
ten verbannte — deswegen, weil in jeder ſo viele unbearbeitete Felder voll Daͤmmerung,
Unſicherheit, Unbeſtimmtheit ſind?

Nicht wahr, mein Freund, bis auf einen gewiſſen Grad kann der Phyſiker ſeine
klaren Wahrnehmungen verfolgen, ſie zerlegen, ſie in Worte kleiden und fortpflanzen; ſagen:
„So und ſo hab ich geforſcht! dieß und jenes beobachtet! ſo viel Beobachtungen geſammelt;
„ſo geſchloſſen — den Weg bin ich gegangen, den gehe auch du!“ — Aber wird er das im-
merhin ſagen koͤnnen? Wird der feine Beobachtungsgeiſt nie zu ſolchen Beobachtungen vor-
„fliegen, die ſich nicht mittheilen laſſen? nie weiter ſehen, als er dem, der ihm nachſtrebt,
oder nachkriecht, zeigen und vorbuchſtabieren kann? — und iſt deswegen die Phyſik weniger
Wiſſenſchaft? — — Wie viel Vorempfindung der Wahrheit hatte Leibnitz, ehe Wolf die

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[53/0077] Die Phyſiognomik eine Wiſſenſchaft. mik einwenden. Entweder wird er allen Wiſſenſchaften dieſen Namen abſprechen, oder ihn der Phyſiognomik ſo gut als einer andern geben muͤſſen. So bald eine Wahrheit oder eine Erkenntniß Zeichen hat, ſo bald iſt ſie wiſſenſchaftlich, und ſie iſt es ſo weit, ſo weit ſie ſich durch Worte, Bilder, Regeln, Beſtimmungen mitthei- len laͤßt. Es wird alſo blos darauf ankommen, ob ſich der auffallende unlaͤugbare Unterſchied der menſchlichen Geſichtsbildungen und Geſtalten — nicht nur dunkel wahrnehmen, ſondern unter beſtimmte Charactere, Zeichen, Ausdruͤcke bringen laſſe? Ob gewiſſe Zeichen der Staͤrke und der Schwaͤche, der Geſundheit und der Krankheit des Koͤrpers, der Dummheit und des Verſtandes, der Großmuth und Niedertraͤchtigkeit, der Tugend und des Laſters, u. ſ. f. ſich angeben und mittheilen laſſen? — Dieß iſt bey der gegenwaͤrtigen Frage der einzige Unterſu- chungspunkt. — Dem muß es entweder an Logik, oder an Wahrheitsliebe fehlen, der ſtatt dieß zu unterſuchen, wider die Phyſiognomik deklamirt; den Verfaſſer laͤcherlich macht, oder — ſtatt der Antwort auf die lichthellſte Frage — eine irgendwo aufgehaſchte Luͤge wider ihn — erzaͤhlt, niederſchreibt, drucken laͤßt, — gemaͤß dem Geiſte des Muthwillens, der in un- ſerm Jahrhunderte ſo maͤchtig arbeitet, die getriebenſten Bahnen durch Staubaufwuͤhlung zu bedecken! — Was wuͤrdeſt du ſagen, lieber Leſer, wenn jemand Naturforſchung, Arzneywiſſen- ſchaft, Gottesgelehrſamkeit, Schoͤnewiſſenſchaft, — u. ſ. w. außer das Gebiet der Wiſſenſchaf- ten verbannte — deswegen, weil in jeder ſo viele unbearbeitete Felder voll Daͤmmerung, Unſicherheit, Unbeſtimmtheit ſind? Nicht wahr, mein Freund, bis auf einen gewiſſen Grad kann der Phyſiker ſeine klaren Wahrnehmungen verfolgen, ſie zerlegen, ſie in Worte kleiden und fortpflanzen; ſagen: „So und ſo hab ich geforſcht! dieß und jenes beobachtet! ſo viel Beobachtungen geſammelt; „ſo geſchloſſen — den Weg bin ich gegangen, den gehe auch du!“ — Aber wird er das im- merhin ſagen koͤnnen? Wird der feine Beobachtungsgeiſt nie zu ſolchen Beobachtungen vor- „fliegen, die ſich nicht mittheilen laſſen? nie weiter ſehen, als er dem, der ihm nachſtrebt, oder nachkriecht, zeigen und vorbuchſtabieren kann? — und iſt deswegen die Phyſik weniger Wiſſenſchaft? — — Wie viel Vorempfindung der Wahrheit hatte Leibnitz, ehe Wolf die Kreiſe, H 3

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/77>, abgerufen am 29.03.2024.