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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XI. Fragment.
Eilftes Fragment.
Ueber Schattenrisse.

Das Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, ist das schwächste,
das leereste, aber zugleich, wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden; wenn das Gesicht auf
eine reine Fläche gefallen -- mit dieser Fläche parallel genug gewesen -- das wahreste und getreueste
Bild, das man von einem Menschen geben kann; das schwächste; denn es ist nichts Positifes; es
ist nur was Negatifes, -- nur die Gränzlinie des halben Gesichtes; -- das getreueste, weil es
ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist, wie keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der
Natur von freyer Hand zu machen im Stande ist.

Was kann weniger Bild eines ganz lebendigen Menschen seyn, als ein Schattenriß? und
wie viel sagt er! wenig Gold; aber das reinste!

Jn einem Schattenrisse ist nur Eine Linie; keine Bewegung, kein Licht, keine Farbe, keine
Höhe und Tiefe; kein Aug', kein Ohr -- kein Nasloch, keine Wange, -- nur ein sehr kleiner
Theil von der Lippe -- und dennoch, wie entscheidend bedeutsam ist Er! der Leser soll bald ur-
theilen -- hat schon im I. Theile häufigen Anlaß gehabt, sich davon zu überzeugen, und sein Ur-
theil zu üben.

Schatten von Körpern waren vermuthlich die ersten Veranlasser und Lehrer der Zeich-
nungs- und Mahlerkunst.

Sie drücken, wie gesagt, wenig, aber dieß wenige sehr wahr aus. Keine Kunst reicht
an die Wahrheit eines sehr gut gemachten Schattenrisses.

Man versuch' es, und lege den zartesten Schattenriß mit der äussersten Genauigkeit erst
nach der Natur, und mit eben dieser Genauigkeit hernach auf ein feines durchsichtiges Oelpapier
ins Kleine gezeichnet, auf eine gleich große Profilzeichnung von dem besten, geschicktesten Zeich-
ner, die auch noch so ähnlich scheinen mag. Man wird leicht Unterschiede und Abweichungen be-
merken.

Jch
XI. Fragment.
Eilftes Fragment.
Ueber Schattenriſſe.

Das Schattenbild von einem Menſchen, oder einem menſchlichen Geſichte, iſt das ſchwaͤchſte,
das leereſte, aber zugleich, wenn das Licht in gehoͤriger Entfernung geſtanden; wenn das Geſicht auf
eine reine Flaͤche gefallen — mit dieſer Flaͤche parallel genug geweſen — das wahreſte und getreueſte
Bild, das man von einem Menſchen geben kann; das ſchwaͤchſte; denn es iſt nichts Poſitifes; es
iſt nur was Negatifes, — nur die Graͤnzlinie des halben Geſichtes; — das getreueſte, weil es
ein unmittelbarer Abdruck der Natur iſt, wie keiner, auch der geſchickteſte Zeichner, einen nach der
Natur von freyer Hand zu machen im Stande iſt.

Was kann weniger Bild eines ganz lebendigen Menſchen ſeyn, als ein Schattenriß? und
wie viel ſagt er! wenig Gold; aber das reinſte!

Jn einem Schattenriſſe iſt nur Eine Linie; keine Bewegung, kein Licht, keine Farbe, keine
Hoͤhe und Tiefe; kein Aug’, kein Ohr — kein Nasloch, keine Wange, — nur ein ſehr kleiner
Theil von der Lippe — und dennoch, wie entſcheidend bedeutſam iſt Er! der Leſer ſoll bald ur-
theilen — hat ſchon im I. Theile haͤufigen Anlaß gehabt, ſich davon zu uͤberzeugen, und ſein Ur-
theil zu uͤben.

Schatten von Koͤrpern waren vermuthlich die erſten Veranlaſſer und Lehrer der Zeich-
nungs- und Mahlerkunſt.

Sie druͤcken, wie geſagt, wenig, aber dieß wenige ſehr wahr aus. Keine Kunſt reicht
an die Wahrheit eines ſehr gut gemachten Schattenriſſes.

Man verſuch’ es, und lege den zarteſten Schattenriß mit der aͤuſſerſten Genauigkeit erſt
nach der Natur, und mit eben dieſer Genauigkeit hernach auf ein feines durchſichtiges Oelpapier
ins Kleine gezeichnet, auf eine gleich große Profilzeichnung von dem beſten, geſchickteſten Zeich-
ner, die auch noch ſo aͤhnlich ſcheinen mag. Man wird leicht Unterſchiede und Abweichungen be-
merken.

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[90/0118] XI. Fragment. Eilftes Fragment. Ueber Schattenriſſe. Das Schattenbild von einem Menſchen, oder einem menſchlichen Geſichte, iſt das ſchwaͤchſte, das leereſte, aber zugleich, wenn das Licht in gehoͤriger Entfernung geſtanden; wenn das Geſicht auf eine reine Flaͤche gefallen — mit dieſer Flaͤche parallel genug geweſen — das wahreſte und getreueſte Bild, das man von einem Menſchen geben kann; das ſchwaͤchſte; denn es iſt nichts Poſitifes; es iſt nur was Negatifes, — nur die Graͤnzlinie des halben Geſichtes; — das getreueſte, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur iſt, wie keiner, auch der geſchickteſte Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande iſt. Was kann weniger Bild eines ganz lebendigen Menſchen ſeyn, als ein Schattenriß? und wie viel ſagt er! wenig Gold; aber das reinſte! Jn einem Schattenriſſe iſt nur Eine Linie; keine Bewegung, kein Licht, keine Farbe, keine Hoͤhe und Tiefe; kein Aug’, kein Ohr — kein Nasloch, keine Wange, — nur ein ſehr kleiner Theil von der Lippe — und dennoch, wie entſcheidend bedeutſam iſt Er! der Leſer ſoll bald ur- theilen — hat ſchon im I. Theile haͤufigen Anlaß gehabt, ſich davon zu uͤberzeugen, und ſein Ur- theil zu uͤben. Schatten von Koͤrpern waren vermuthlich die erſten Veranlaſſer und Lehrer der Zeich- nungs- und Mahlerkunſt. Sie druͤcken, wie geſagt, wenig, aber dieß wenige ſehr wahr aus. Keine Kunſt reicht an die Wahrheit eines ſehr gut gemachten Schattenriſſes. Man verſuch’ es, und lege den zarteſten Schattenriß mit der aͤuſſerſten Genauigkeit erſt nach der Natur, und mit eben dieſer Genauigkeit hernach auf ein feines durchſichtiges Oelpapier ins Kleine gezeichnet, auf eine gleich große Profilzeichnung von dem beſten, geſchickteſten Zeich- ner, die auch noch ſo aͤhnlich ſcheinen mag. Man wird leicht Unterſchiede und Abweichungen be- merken. Jch

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/118>, abgerufen am 23.04.2024.