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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Einleitung.

Aber zittern und beben muß' ich deßwegen vornehmlich, weil ich die wenigsten meiner
Leser in den wahren Gesichtspunkt setzen -- oder darauf fest halten kann.

Nicht den Lesern, mir will' ich die Schuld davon beymessen. Jch kann nicht würken, was
ich würken will; und das sollt' ich können. Wer gut schreibt, wird gut gelesen. Der Verfas-
ser soll die Leser bilden. -- Mit welchem Maße jeder mißt, mit demselben wird ihm zu-
rück gemessen.
-- Beyfall und Lob ist leicht zu ermessen; aber Würkung? und gerade die Wür-
kung, die man will? -- --

Allein! -- Wer kann schreiben, wie er denkt? wie er fühlt? -- O wie schwer hat's der
Autor, der schaut und empfindet, und andre schaun und empfinden machen will? -- und wer schwe-
rer, als der Autor der Menschheit? --

Und wann soll der schreiben, um nicht als Schriftsteller, um als Mensch, um nicht fürs
Publikum, sondern für Menschen zu schreiben? -- Um die innersten Sayten der Menschheit zu
treffen? Um durchs Menschengeschlecht, durch Jahrhunderte hinab, durch alle Stürme von Mit-
schriftstellern, alle Fluthen von Modegeschmacke sicher fortzuwürken, auf alles, alles was Mensch
heißt? Auf jede noch offne bloße Seite der Menschheit?

Wie? wann? -- -- Jn einem Zeitalter, wo alles Schriftsteller, Leser, Gelehrsamkeit,
Kunst, und ach so wenig Natur, so wenig reine Menschheit, so wenig reines Jnteresse für Wahr-
heit, so wenig Durst nach Freyheit ist, wo alles sich im Kunstkleide, im Putz gefällt, und niemand
merkt, daß auch das schönste, geschmackvollste Kleid -- Denkmal des Verfalls und Joch ist, un-
ter dem der Sohn der Natur -- schmachtet, und in den besten Stunden seines Lebens blutige
Thränen weinen möchte... Wie also schreiben und wann?

Jn den stillsten, ruhigsten, seligsten Augenblicken dieses -- nur aufkeimenden Mühevollen
Lebens in dieser Dämmerung? Jn jenen Augenblicken, die sich nicht herrufen, nicht erzwingen,
mit nichts erkaufen lassen, die gegeben werden vom Vater des Lichtes, nicht aus der Erde
herauf, herab vom Himmel kommen? Jn Augenblicken, deren der Thor lacht, und der weltweise
Buchstäbler spottet -- deren Werth niemand kennt, als wer sie genießt; in Augenblicken der still
sich aufhellenden Morgenröthe; des dämmernden Abends, wenn vollendet ist das Gute, das zu
vollenden man sich des Morgens vorzeichnete; wir uns so ausruhend hinstrecken, ein geistreicher,

mitfüh-
Einleitung.

Aber zittern und beben muß’ ich deßwegen vornehmlich, weil ich die wenigſten meiner
Leſer in den wahren Geſichtspunkt ſetzen — oder darauf feſt halten kann.

Nicht den Leſern, mir will’ ich die Schuld davon beymeſſen. Jch kann nicht wuͤrken, was
ich wuͤrken will; und das ſollt’ ich koͤnnen. Wer gut ſchreibt, wird gut geleſen. Der Verfaſ-
ſer ſoll die Leſer bilden. — Mit welchem Maße jeder mißt, mit demſelben wird ihm zu-
ruͤck gemeſſen.
— Beyfall und Lob iſt leicht zu ermeſſen; aber Wuͤrkung? und gerade die Wuͤr-
kung, die man will? — —

Allein! — Wer kann ſchreiben, wie er denkt? wie er fuͤhlt? — O wie ſchwer hat’s der
Autor, der ſchaut und empfindet, und andre ſchaun und empfinden machen will? — und wer ſchwe-
rer, als der Autor der Menſchheit? —

Und wann ſoll der ſchreiben, um nicht als Schriftſteller, um als Menſch, um nicht fuͤrs
Publikum, ſondern fuͤr Menſchen zu ſchreiben? — Um die innerſten Sayten der Menſchheit zu
treffen? Um durchs Menſchengeſchlecht, durch Jahrhunderte hinab, durch alle Stuͤrme von Mit-
ſchriftſtellern, alle Fluthen von Modegeſchmacke ſicher fortzuwuͤrken, auf alles, alles was Menſch
heißt? Auf jede noch offne bloße Seite der Menſchheit?

Wie? wann? — — Jn einem Zeitalter, wo alles Schriftſteller, Leſer, Gelehrſamkeit,
Kunſt, und ach ſo wenig Natur, ſo wenig reine Menſchheit, ſo wenig reines Jntereſſe fuͤr Wahr-
heit, ſo wenig Durſt nach Freyheit iſt, wo alles ſich im Kunſtkleide, im Putz gefaͤllt, und niemand
merkt, daß auch das ſchoͤnſte, geſchmackvollſte Kleid — Denkmal des Verfalls und Joch iſt, un-
ter dem der Sohn der Natur — ſchmachtet, und in den beſten Stunden ſeines Lebens blutige
Thraͤnen weinen moͤchte... Wie alſo ſchreiben und wann?

Jn den ſtillſten, ruhigſten, ſeligſten Augenblicken dieſes — nur aufkeimenden Muͤhevollen
Lebens in dieſer Daͤmmerung? Jn jenen Augenblicken, die ſich nicht herrufen, nicht erzwingen,
mit nichts erkaufen laſſen, die gegeben werden vom Vater des Lichtes, nicht aus der Erde
herauf, herab vom Himmel kommen? Jn Augenblicken, deren der Thor lacht, und der weltweiſe
Buchſtaͤbler ſpottet — deren Werth niemand kennt, als wer ſie genießt; in Augenblicken der ſtill
ſich aufhellenden Morgenroͤthe; des daͤmmernden Abends, wenn vollendet iſt das Gute, das zu
vollenden man ſich des Morgens vorzeichnete; wir uns ſo ausruhend hinſtrecken, ein geiſtreicher,

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[2/0016] Einleitung. Aber zittern und beben muß’ ich deßwegen vornehmlich, weil ich die wenigſten meiner Leſer in den wahren Geſichtspunkt ſetzen — oder darauf feſt halten kann. Nicht den Leſern, mir will’ ich die Schuld davon beymeſſen. Jch kann nicht wuͤrken, was ich wuͤrken will; und das ſollt’ ich koͤnnen. Wer gut ſchreibt, wird gut geleſen. Der Verfaſ- ſer ſoll die Leſer bilden. — Mit welchem Maße jeder mißt, mit demſelben wird ihm zu- ruͤck gemeſſen. — Beyfall und Lob iſt leicht zu ermeſſen; aber Wuͤrkung? und gerade die Wuͤr- kung, die man will? — — Allein! — Wer kann ſchreiben, wie er denkt? wie er fuͤhlt? — O wie ſchwer hat’s der Autor, der ſchaut und empfindet, und andre ſchaun und empfinden machen will? — und wer ſchwe- rer, als der Autor der Menſchheit? — Und wann ſoll der ſchreiben, um nicht als Schriftſteller, um als Menſch, um nicht fuͤrs Publikum, ſondern fuͤr Menſchen zu ſchreiben? — Um die innerſten Sayten der Menſchheit zu treffen? Um durchs Menſchengeſchlecht, durch Jahrhunderte hinab, durch alle Stuͤrme von Mit- ſchriftſtellern, alle Fluthen von Modegeſchmacke ſicher fortzuwuͤrken, auf alles, alles was Menſch heißt? Auf jede noch offne bloße Seite der Menſchheit? Wie? wann? — — Jn einem Zeitalter, wo alles Schriftſteller, Leſer, Gelehrſamkeit, Kunſt, und ach ſo wenig Natur, ſo wenig reine Menſchheit, ſo wenig reines Jntereſſe fuͤr Wahr- heit, ſo wenig Durſt nach Freyheit iſt, wo alles ſich im Kunſtkleide, im Putz gefaͤllt, und niemand merkt, daß auch das ſchoͤnſte, geſchmackvollſte Kleid — Denkmal des Verfalls und Joch iſt, un- ter dem der Sohn der Natur — ſchmachtet, und in den beſten Stunden ſeines Lebens blutige Thraͤnen weinen moͤchte... Wie alſo ſchreiben und wann? Jn den ſtillſten, ruhigſten, ſeligſten Augenblicken dieſes — nur aufkeimenden Muͤhevollen Lebens in dieſer Daͤmmerung? Jn jenen Augenblicken, die ſich nicht herrufen, nicht erzwingen, mit nichts erkaufen laſſen, die gegeben werden vom Vater des Lichtes, nicht aus der Erde herauf, herab vom Himmel kommen? Jn Augenblicken, deren der Thor lacht, und der weltweiſe Buchſtaͤbler ſpottet — deren Werth niemand kennt, als wer ſie genießt; in Augenblicken der ſtill ſich aufhellenden Morgenroͤthe; des daͤmmernden Abends, wenn vollendet iſt das Gute, das zu vollenden man ſich des Morgens vorzeichnete; wir uns ſo ausruhend hinſtrecken, ein geiſtreicher, mitfuͤh-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/16>, abgerufen am 28.03.2024.