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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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Schattenrissen sehen lasse.
Zwölfte Tafel.
Neun weibliche Silhouetten.

Man bemerke in allen diesen 9. Umrissen von sehr ungleichem Werthe und ungleicher Genauig-
keit -- und höchst ungleicher Weiblichkeit, wenn ich so sagen darf -- dennoch das gemein Weib-
liche -- das Weiche, Ründliche, Ungespannte, Unharte, Uneckige.

Die weiblichsten sind 1. und 5. -- die männlichsten 7. 8. 9.

1. -- Die höchste, empfindlichste Güte, voll der redlichsten, jungfräulichsten, demüthig-
sten -- Empfindsamkeit.
2. -- Vergleicht nur Stirn mit Stirn und Mund mit Mund, (es sind zwo Schwestern)
wie viel stärker -- durch vieles Leiden stark, ist die zweyte!
3. -- Männliche Jungfräulichkeit, voll der tiefsten, innigsten, originellsten, simpelsten --
Jnnigkeit.
4. -- Wir kennen die schon. Sie ist nur um der Sammlung willen wieder da. Die Nase
ist hier vortrefflich ausgedrückt, und voll Ausdruck des reinsten Verstandes und Geschmacks.
5. -- Erstaunliche Biegsamkeit, unbeschreibliche Empfänglichkeit sinnlicher Eindrücke; die
Lippen zeigen viel Feinheit.
6. -- Kennen wir auch schon. Diese Stirn, verglichen mit allen 8 übrigen, wie ausgezeich-
net, besonders an einem weiblichen Kopfe, für den tiefsten schauenden Verstand!
7. 8. 9. Mutter und Tochter. Die Stirn von 7. so kurz sie ist, ist nicht gemein.
8. Schlecht gezeichnet. Wie schlecht, wie verdorben, zeigt die folgende Zeichnung von
demselben Profile; der zaghafte, unbestimmte Umriß der Stirn -- verglichen mit 9 -- wie kraft-
und bedeutungslos! Man vergleiche Nase und Nase, Kinn und Kinn -- und urtheile!
9. Voll ernsten, tiefen Sinnes. Vom Augknochen an bis unten an die Nasspitze männ-
licher, reifer Verstand.

So viel sieht man; -- wie viel sieht man nicht! die sprechendsten aller dieser Silhouetten,
als Silhouetten betrachtet, sind 1, 2, 4, 6. besonders.

Die
Q 2
Schattenriſſen ſehen laſſe.
Zwoͤlfte Tafel.
Neun weibliche Silhouetten.

Man bemerke in allen dieſen 9. Umriſſen von ſehr ungleichem Werthe und ungleicher Genauig-
keit — und hoͤchſt ungleicher Weiblichkeit, wenn ich ſo ſagen darf — dennoch das gemein Weib-
liche — das Weiche, Ruͤndliche, Ungeſpannte, Unharte, Uneckige.

Die weiblichſten ſind 1. und 5. — die maͤnnlichſten 7. 8. 9.

1. — Die hoͤchſte, empfindlichſte Guͤte, voll der redlichſten, jungfraͤulichſten, demuͤthig-
ſten — Empfindſamkeit.
2. — Vergleicht nur Stirn mit Stirn und Mund mit Mund, (es ſind zwo Schweſtern)
wie viel ſtaͤrker — durch vieles Leiden ſtark, iſt die zweyte!
3. — Maͤnnliche Jungfraͤulichkeit, voll der tiefſten, innigſten, originellſten, ſimpelſten —
Jnnigkeit.
4. — Wir kennen die ſchon. Sie iſt nur um der Sammlung willen wieder da. Die Naſe
iſt hier vortrefflich ausgedruͤckt, und voll Ausdruck des reinſten Verſtandes und Geſchmacks.
5. — Erſtaunliche Biegſamkeit, unbeſchreibliche Empfaͤnglichkeit ſinnlicher Eindruͤcke; die
Lippen zeigen viel Feinheit.
6. — Kennen wir auch ſchon. Dieſe Stirn, verglichen mit allen 8 uͤbrigen, wie ausgezeich-
net, beſonders an einem weiblichen Kopfe, fuͤr den tiefſten ſchauenden Verſtand!
7. 8. 9. Mutter und Tochter. Die Stirn von 7. ſo kurz ſie iſt, iſt nicht gemein.
8. Schlecht gezeichnet. Wie ſchlecht, wie verdorben, zeigt die folgende Zeichnung von
demſelben Profile; der zaghafte, unbeſtimmte Umriß der Stirn — verglichen mit 9 — wie kraft-
und bedeutungslos! Man vergleiche Naſe und Naſe, Kinn und Kinn — und urtheile!
9. Voll ernſten, tiefen Sinnes. Vom Augknochen an bis unten an die Nasſpitze maͤnn-
licher, reifer Verſtand.

So viel ſieht man; — wie viel ſieht man nicht! die ſprechendſten aller dieſer Silhouetten,
als Silhouetten betrachtet, ſind 1, 2, 4, 6. beſonders.

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[123/0175] Schattenriſſen ſehen laſſe. Zwoͤlfte Tafel. Neun weibliche Silhouetten. Man bemerke in allen dieſen 9. Umriſſen von ſehr ungleichem Werthe und ungleicher Genauig- keit — und hoͤchſt ungleicher Weiblichkeit, wenn ich ſo ſagen darf — dennoch das gemein Weib- liche — das Weiche, Ruͤndliche, Ungeſpannte, Unharte, Uneckige. Die weiblichſten ſind 1. und 5. — die maͤnnlichſten 7. 8. 9. 1. — Die hoͤchſte, empfindlichſte Guͤte, voll der redlichſten, jungfraͤulichſten, demuͤthig- ſten — Empfindſamkeit. 2. — Vergleicht nur Stirn mit Stirn und Mund mit Mund, (es ſind zwo Schweſtern) wie viel ſtaͤrker — durch vieles Leiden ſtark, iſt die zweyte! 3. — Maͤnnliche Jungfraͤulichkeit, voll der tiefſten, innigſten, originellſten, ſimpelſten — Jnnigkeit. 4. — Wir kennen die ſchon. Sie iſt nur um der Sammlung willen wieder da. Die Naſe iſt hier vortrefflich ausgedruͤckt, und voll Ausdruck des reinſten Verſtandes und Geſchmacks. 5. — Erſtaunliche Biegſamkeit, unbeſchreibliche Empfaͤnglichkeit ſinnlicher Eindruͤcke; die Lippen zeigen viel Feinheit. 6. — Kennen wir auch ſchon. Dieſe Stirn, verglichen mit allen 8 uͤbrigen, wie ausgezeich- net, beſonders an einem weiblichen Kopfe, fuͤr den tiefſten ſchauenden Verſtand! 7. 8. 9. Mutter und Tochter. Die Stirn von 7. ſo kurz ſie iſt, iſt nicht gemein. 8. Schlecht gezeichnet. Wie ſchlecht, wie verdorben, zeigt die folgende Zeichnung von demſelben Profile; der zaghafte, unbeſtimmte Umriß der Stirn — verglichen mit 9 — wie kraft- und bedeutungslos! Man vergleiche Naſe und Naſe, Kinn und Kinn — und urtheile! 9. Voll ernſten, tiefen Sinnes. Vom Augknochen an bis unten an die Nasſpitze maͤnn- licher, reifer Verſtand. So viel ſieht man; — wie viel ſieht man nicht! die ſprechendſten aller dieſer Silhouetten, als Silhouetten betrachtet, ſind 1, 2, 4, 6. beſonders. Die Q 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/175>, abgerufen am 18.04.2024.