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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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des physiognomischen Beobachtungsgeistes.
alles dieß beweist nur, wie selten der ächte, scharfe Beobachtungsgeist ist; wie oft er selbst die
verläßt, die sich geflissentlich mit Beobachtungen abgeben.

Mir schauert oft die Haut, wenn ich an die schiefen Vergleichungen gedenke -- die
man von Porträten und Schattenrissen -- mit lebenden Personen macht; -- wie man jede
Karikatur für wahres Porträt, oder vielleicht bisweilen gar für ein Jdeal halten kann? -- Die
vollkommenste Analogie seh' ich in diesen Urtheilen mit den Urtheilen gemeiner Menschen über
den Charakter anderer. Jede Verläumdung, die nur noch etwas wahres enthält -- wird ach!
so leicht für reine ganze Wahrheit hinein verschlungen, so wie viele tausend elende Porträte,
die kaum eine entfernte Aehnlichkeit haben, für kenntlich ausgerufen werden.

Unzählige elende physiognomische Urtheile entstehen daher; und unzählige sehr gegründet
scheinende, und dennoch äußerst ungegründete Einwendungen gegen die Physiognomik.

Man nennt ähnlich, was nicht ähnlich ist -- weil man sich nicht gewöhnt hat, fest und
scharf zu beobachten.

Selber Porträtmahler -- (doch ich werd' in einem besondern Fragmente über die Por-
trätmahlerey mir die Freyheit nehmen, über den Mangel des Beobachtungsgeistes unter ihnen --
nicht mein Herz zu leeren; -- sondern nur ein Paar erweckende Worte fallen zu lassen) --
Selber Porträtmahler sind von solchen Uebereilungen nicht frey.

Was ich sage, sag' ich nicht, um zu tadeln, oder zu beleidigen, sondern um zu warnen
und zu belehren. --

Zu warnen vor schnellen schiefen Beurtheilungen und Vergleichungen, bis man sicher ist,
daß man zwey unähnliche Gesichter nicht mehr für ähnlich, und zwey ähnliche nicht für dieselben
halten kann.

Jch werde daher in diesem Werke alle Gelegenheiten ergreifen, meine Leser auf die klein-
sten, kaum bemerkbaren Unterschiede gewisser Gesichter und Gesichtszüge, die sich beym ersten
flüchtigen Anblick ähnlich scheinen, aufmerksam zu machen.

Jch hab' in dieser Absicht von zween Köpfen, von jedem viermal einen bloßen Umriß
ziehen lassen, um dem nachdenkenden Leser etwas vorzulegen, woran er seinen physiognomischen
Beobachtungsgeist üben kann.

Vier
Phys. Fragm. II Versuch. C

des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes.
alles dieß beweiſt nur, wie ſelten der aͤchte, ſcharfe Beobachtungsgeiſt iſt; wie oft er ſelbſt die
verlaͤßt, die ſich gefliſſentlich mit Beobachtungen abgeben.

Mir ſchauert oft die Haut, wenn ich an die ſchiefen Vergleichungen gedenke — die
man von Portraͤten und Schattenriſſen — mit lebenden Perſonen macht; — wie man jede
Karikatur fuͤr wahres Portraͤt, oder vielleicht bisweilen gar fuͤr ein Jdeal halten kann? — Die
vollkommenſte Analogie ſeh’ ich in dieſen Urtheilen mit den Urtheilen gemeiner Menſchen uͤber
den Charakter anderer. Jede Verlaͤumdung, die nur noch etwas wahres enthaͤlt — wird ach!
ſo leicht fuͤr reine ganze Wahrheit hinein verſchlungen, ſo wie viele tauſend elende Portraͤte,
die kaum eine entfernte Aehnlichkeit haben, fuͤr kenntlich ausgerufen werden.

Unzaͤhlige elende phyſiognomiſche Urtheile entſtehen daher; und unzaͤhlige ſehr gegruͤndet
ſcheinende, und dennoch aͤußerſt ungegruͤndete Einwendungen gegen die Phyſiognomik.

Man nennt aͤhnlich, was nicht aͤhnlich iſt — weil man ſich nicht gewoͤhnt hat, feſt und
ſcharf zu beobachten.

Selber Portraͤtmahler — (doch ich werd’ in einem beſondern Fragmente uͤber die Por-
traͤtmahlerey mir die Freyheit nehmen, uͤber den Mangel des Beobachtungsgeiſtes unter ihnen —
nicht mein Herz zu leeren; — ſondern nur ein Paar erweckende Worte fallen zu laſſen) —
Selber Portraͤtmahler ſind von ſolchen Uebereilungen nicht frey.

Was ich ſage, ſag’ ich nicht, um zu tadeln, oder zu beleidigen, ſondern um zu warnen
und zu belehren. —

Zu warnen vor ſchnellen ſchiefen Beurtheilungen und Vergleichungen, bis man ſicher iſt,
daß man zwey unaͤhnliche Geſichter nicht mehr fuͤr aͤhnlich, und zwey aͤhnliche nicht fuͤr dieſelben
halten kann.

Jch werde daher in dieſem Werke alle Gelegenheiten ergreifen, meine Leſer auf die klein-
ſten, kaum bemerkbaren Unterſchiede gewiſſer Geſichter und Geſichtszuͤge, die ſich beym erſten
fluͤchtigen Anblick aͤhnlich ſcheinen, aufmerkſam zu machen.

Jch hab’ in dieſer Abſicht von zween Koͤpfen, von jedem viermal einen bloßen Umriß
ziehen laſſen, um dem nachdenkenden Leſer etwas vorzulegen, woran er ſeinen phyſiognomiſchen
Beobachtungsgeiſt uͤben kann.

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Phyſ. Fragm. II Verſuch. C
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[17/0035] des phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſtes. alles dieß beweiſt nur, wie ſelten der aͤchte, ſcharfe Beobachtungsgeiſt iſt; wie oft er ſelbſt die verlaͤßt, die ſich gefliſſentlich mit Beobachtungen abgeben. Mir ſchauert oft die Haut, wenn ich an die ſchiefen Vergleichungen gedenke — die man von Portraͤten und Schattenriſſen — mit lebenden Perſonen macht; — wie man jede Karikatur fuͤr wahres Portraͤt, oder vielleicht bisweilen gar fuͤr ein Jdeal halten kann? — Die vollkommenſte Analogie ſeh’ ich in dieſen Urtheilen mit den Urtheilen gemeiner Menſchen uͤber den Charakter anderer. Jede Verlaͤumdung, die nur noch etwas wahres enthaͤlt — wird ach! ſo leicht fuͤr reine ganze Wahrheit hinein verſchlungen, ſo wie viele tauſend elende Portraͤte, die kaum eine entfernte Aehnlichkeit haben, fuͤr kenntlich ausgerufen werden. Unzaͤhlige elende phyſiognomiſche Urtheile entſtehen daher; und unzaͤhlige ſehr gegruͤndet ſcheinende, und dennoch aͤußerſt ungegruͤndete Einwendungen gegen die Phyſiognomik. Man nennt aͤhnlich, was nicht aͤhnlich iſt — weil man ſich nicht gewoͤhnt hat, feſt und ſcharf zu beobachten. Selber Portraͤtmahler — (doch ich werd’ in einem beſondern Fragmente uͤber die Por- traͤtmahlerey mir die Freyheit nehmen, uͤber den Mangel des Beobachtungsgeiſtes unter ihnen — nicht mein Herz zu leeren; — ſondern nur ein Paar erweckende Worte fallen zu laſſen) — Selber Portraͤtmahler ſind von ſolchen Uebereilungen nicht frey. Was ich ſage, ſag’ ich nicht, um zu tadeln, oder zu beleidigen, ſondern um zu warnen und zu belehren. — Zu warnen vor ſchnellen ſchiefen Beurtheilungen und Vergleichungen, bis man ſicher iſt, daß man zwey unaͤhnliche Geſichter nicht mehr fuͤr aͤhnlich, und zwey aͤhnliche nicht fuͤr dieſelben halten kann. Jch werde daher in dieſem Werke alle Gelegenheiten ergreifen, meine Leſer auf die klein- ſten, kaum bemerkbaren Unterſchiede gewiſſer Geſichter und Geſichtszuͤge, die ſich beym erſten fluͤchtigen Anblick aͤhnlich ſcheinen, aufmerkſam zu machen. Jch hab’ in dieſer Abſicht von zween Koͤpfen, von jedem viermal einen bloßen Umriß ziehen laſſen, um dem nachdenkenden Leſer etwas vorzulegen, woran er ſeinen phyſiognomiſchen Beobachtungsgeiſt uͤben kann. Vier Phyſ. Fragm. II Verſuch. C

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/35>, abgerufen am 29.03.2024.