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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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IV. Fragment. Vereinigung und Verhältniß
Viertes Fragment.
Vereinigung und Verhältniß der Menschenkenntniß und Menschenliebe.

Jch will, lieber Leser, durch dieß Werk Menschenkenntniß und Menschenliebe zugleich beför-
dern. Diese gedoppelte Absicht, kann sie zugleich statt haben? -- Menschenkenntniß, hebt sie
die Menschenliebe nicht auf? schwächt sie wenigstens dieselbe nicht? -- verlieren doch die meisten
Menschen durch die genauere Kenntniß, die man von ihnen erlangt? und, wenn sie verlieren,
wie kann die Menschenliebe gewinnen? -- die Liebenswürdigkeit, muß diese nicht abnehmen,
wenn das geschärfte Auge immer mehr Unvollkommenheiten erblickt; desto schneller, desto mehr,
desto heller erblickt, je mehr es sich übt, Vollkommenheiten zu entdecken?

Was du hier sagst, mein Freund, ist -- -- Wahrheit! -- aber nur einseitige Wahr-
heit. Einseitige Wahrheit aber -- welche ergiebige Quelle von Jrrthum und Mißverstand!

Es ist allerdings wahr, daß die meisten Menschen durch genaue Kenntniß, die man von
ihnen erlangt, verlieren -- aber nicht weniger wahr ist's, daß die meisten Menschen dadurch, daß
man sie genauer kennet, oft gerade so viel, oft noch mehr von der andern Seite gewinnen, als sie
von der einen verloren hatten.

Jch rede nicht von denen, die beynahe nur gewinnen können, je genauer sie gekannt
werden, wofern es solche Menschen geben sollte, die durchs Gekanntseyn, ich sage nicht: viel, son-
dern bloß gewinnen würden.

Jch rede von denen, die viel verlieren, wenn Menschenkenntniß genauer und gemei-
ner wird.

Wer ist so weise, daß er nicht zuweilen ein Thor sey? wo ist der Tugendhafte, der nie la-
sterhaft handle? Nie, wenigstens unreine, uneinfältige Absichten habe?

Also will ich annehmen, daß, mit äusserst seltener Ausnahme, -- alle Menschen durchs
Gekanntseyn verlieren

Aber beweisen will ich, durch die mächtigste Jnduktion, wenn man will -- "daß auch alle
"durchs Gekanntseyn hinwiederum gewinnen."

Mithin
IV. Fragment. Vereinigung und Verhaͤltniß
Viertes Fragment.
Vereinigung und Verhaͤltniß der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe.

Jch will, lieber Leſer, durch dieß Werk Menſchenkenntniß und Menſchenliebe zugleich befoͤr-
dern. Dieſe gedoppelte Abſicht, kann ſie zugleich ſtatt haben? — Menſchenkenntniß, hebt ſie
die Menſchenliebe nicht auf? ſchwaͤcht ſie wenigſtens dieſelbe nicht? — verlieren doch die meiſten
Menſchen durch die genauere Kenntniß, die man von ihnen erlangt? und, wenn ſie verlieren,
wie kann die Menſchenliebe gewinnen? — die Liebenswuͤrdigkeit, muß dieſe nicht abnehmen,
wenn das geſchaͤrfte Auge immer mehr Unvollkommenheiten erblickt; deſto ſchneller, deſto mehr,
deſto heller erblickt, je mehr es ſich uͤbt, Vollkommenheiten zu entdecken?

Was du hier ſagſt, mein Freund, iſt — — Wahrheit! — aber nur einſeitige Wahr-
heit. Einſeitige Wahrheit aber — welche ergiebige Quelle von Jrrthum und Mißverſtand!

Es iſt allerdings wahr, daß die meiſten Menſchen durch genaue Kenntniß, die man von
ihnen erlangt, verlieren — aber nicht weniger wahr iſt’s, daß die meiſten Menſchen dadurch, daß
man ſie genauer kennet, oft gerade ſo viel, oft noch mehr von der andern Seite gewinnen, als ſie
von der einen verloren hatten.

Jch rede nicht von denen, die beynahe nur gewinnen koͤnnen, je genauer ſie gekannt
werden, wofern es ſolche Menſchen geben ſollte, die durchs Gekanntſeyn, ich ſage nicht: viel, ſon-
dern bloß gewinnen wuͤrden.

Jch rede von denen, die viel verlieren, wenn Menſchenkenntniß genauer und gemei-
ner wird.

Wer iſt ſo weiſe, daß er nicht zuweilen ein Thor ſey? wo iſt der Tugendhafte, der nie la-
ſterhaft handle? Nie, wenigſtens unreine, uneinfaͤltige Abſichten habe?

Alſo will ich annehmen, daß, mit aͤuſſerſt ſeltener Ausnahme, — alle Menſchen durchs
Gekanntſeyn verlieren

Aber beweiſen will ich, durch die maͤchtigſte Jnduktion, wenn man will — „daß auch alle
„durchs Gekanntſeyn hinwiederum gewinnen.“

Mithin
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[36/0058] IV. Fragment. Vereinigung und Verhaͤltniß Viertes Fragment. Vereinigung und Verhaͤltniß der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe. Jch will, lieber Leſer, durch dieß Werk Menſchenkenntniß und Menſchenliebe zugleich befoͤr- dern. Dieſe gedoppelte Abſicht, kann ſie zugleich ſtatt haben? — Menſchenkenntniß, hebt ſie die Menſchenliebe nicht auf? ſchwaͤcht ſie wenigſtens dieſelbe nicht? — verlieren doch die meiſten Menſchen durch die genauere Kenntniß, die man von ihnen erlangt? und, wenn ſie verlieren, wie kann die Menſchenliebe gewinnen? — die Liebenswuͤrdigkeit, muß dieſe nicht abnehmen, wenn das geſchaͤrfte Auge immer mehr Unvollkommenheiten erblickt; deſto ſchneller, deſto mehr, deſto heller erblickt, je mehr es ſich uͤbt, Vollkommenheiten zu entdecken? Was du hier ſagſt, mein Freund, iſt — — Wahrheit! — aber nur einſeitige Wahr- heit. Einſeitige Wahrheit aber — welche ergiebige Quelle von Jrrthum und Mißverſtand! Es iſt allerdings wahr, daß die meiſten Menſchen durch genaue Kenntniß, die man von ihnen erlangt, verlieren — aber nicht weniger wahr iſt’s, daß die meiſten Menſchen dadurch, daß man ſie genauer kennet, oft gerade ſo viel, oft noch mehr von der andern Seite gewinnen, als ſie von der einen verloren hatten. Jch rede nicht von denen, die beynahe nur gewinnen koͤnnen, je genauer ſie gekannt werden, wofern es ſolche Menſchen geben ſollte, die durchs Gekanntſeyn, ich ſage nicht: viel, ſon- dern bloß gewinnen wuͤrden. Jch rede von denen, die viel verlieren, wenn Menſchenkenntniß genauer und gemei- ner wird. Wer iſt ſo weiſe, daß er nicht zuweilen ein Thor ſey? wo iſt der Tugendhafte, der nie la- ſterhaft handle? Nie, wenigſtens unreine, uneinfaͤltige Abſichten habe? Alſo will ich annehmen, daß, mit aͤuſſerſt ſeltener Ausnahme, — alle Menſchen durchs Gekanntſeyn verlieren Aber beweiſen will ich, durch die maͤchtigſte Jnduktion, wenn man will — „daß auch alle „durchs Gekanntſeyn hinwiederum gewinnen.“ Mithin

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/58>, abgerufen am 28.03.2024.