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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Charakter der Handschriften.

Wie mit dem menschlichen Körper; so mit den Leidenschaften, und dem Charakter der
Menschen. Alle sogenannte Triebe, Fähigkeiten, Neigungen, Leidenschaften, Handlungen -- Jeg-
liche von jeglicher verschieden, und jede jeglicher ähnlich, keine der andern widersprechend, obgleich
oft äußerlich widersprechend, alle zusammen verschworen; ein Complot! das treuste, das sich geden-
ken läßt! Die Aeußerungen und Effekte davon können kontrastiren; können vielleicht neben einander
zugleich nicht bestehen; aber die Quelle dieser Aeußerungen im Grunde nur Eine und ebendieselbe.

Ohne dieß weiter zu entwickeln, oder zu beweisen; -- werd' ich nun wohl weiter gehen,
und ohne Besorgniß eines Widersprechers behaupten dürfen:

Daß alle körperliche Bewegungen des Menschen sich nach seinem Temperamente und sei-
nem Charakter -- modifiziren; daß jede Bewegung des Klugen anders ist, als dieselbe Bewegung
des Unklugen; daß der Choleriker anders schreitet, und sich trägt, als der Phlegmatiker; der San-
guiniker anders, als der Melancholiker. -- "Daß, (ich glaube Sterne sagt's, oder Delabrüyere?)
"der Weise seinen Hut ganz anders von der Stelle nimmt, wo er ihn hinlegte, als der Thor." --

Ferner -- daß unter allen Bewegungen des menschlichen Körpers keine so mannichfaltig
sey, als die der Hand und der Finger.

Und unter allen Bewegungen der Hand und der Finger keine so mannichfaltig, als die, wel-
che das Schreiben verursacht. Das einfachste Wort, das so bald hingeschrieben ist, wie viele verschie-
den angelegte Punkte enthält es! aus wie mancherley Krümmungen ist es zusammen gebildet!

Ferner -- ist offenbar, daß jedes Gemählde, jede Figur im Gemählde, und für den Ken-
ner und Beobachter, jeder Zug den Charakter seines Meisters hat.

Kein einziger Zug aus einem Kupferstich von Wille hat den vollkommenen Charakter ir-
gend eines einzigen Zuges aus einem von Schmidt.

Laßt hundert Mahler, laßt alle Schüler eines und desselben Meisters dasselbe Bild nach-
zeichnen, und alle Copieen dem Original auffallend ähnlich seyn -- Jede Copie wird dennoch sicher-
lich einen eigenthümlichen Charakter, den Charakter ihres Verfassers, wenigstens eine Tinktur
davon haben.

Die Sache bedarf keines andern Beweises, als des bloßen Anschauens. Sollte
dieses von den Zeichnungen und Figuren, die man Handschriften nennt, weniger wahr seyn?

Wird
Charakter der Handſchriften.

Wie mit dem menſchlichen Koͤrper; ſo mit den Leidenſchaften, und dem Charakter der
Menſchen. Alle ſogenannte Triebe, Faͤhigkeiten, Neigungen, Leidenſchaften, Handlungen — Jeg-
liche von jeglicher verſchieden, und jede jeglicher aͤhnlich, keine der andern widerſprechend, obgleich
oft aͤußerlich widerſprechend, alle zuſammen verſchworen; ein Complot! das treuſte, das ſich geden-
ken laͤßt! Die Aeußerungen und Effekte davon koͤnnen kontraſtiren; koͤnnen vielleicht neben einander
zugleich nicht beſtehen; aber die Quelle dieſer Aeußerungen im Grunde nur Eine und ebendieſelbe.

Ohne dieß weiter zu entwickeln, oder zu beweiſen; — werd’ ich nun wohl weiter gehen,
und ohne Beſorgniß eines Widerſprechers behaupten duͤrfen:

Daß alle koͤrperliche Bewegungen des Menſchen ſich nach ſeinem Temperamente und ſei-
nem Charakter — modifiziren; daß jede Bewegung des Klugen anders iſt, als dieſelbe Bewegung
des Unklugen; daß der Choleriker anders ſchreitet, und ſich traͤgt, als der Phlegmatiker; der San-
guiniker anders, als der Melancholiker. — „Daß, (ich glaube Sterne ſagt’s, oder Delabruͤyere?)
„der Weiſe ſeinen Hut ganz anders von der Stelle nimmt, wo er ihn hinlegte, als der Thor.“ —

Ferner — daß unter allen Bewegungen des menſchlichen Koͤrpers keine ſo mannichfaltig
ſey, als die der Hand und der Finger.

Und unter allen Bewegungen der Hand und der Finger keine ſo mannichfaltig, als die, wel-
che das Schreiben verurſacht. Das einfachſte Wort, das ſo bald hingeſchrieben iſt, wie viele verſchie-
den angelegte Punkte enthaͤlt es! aus wie mancherley Kruͤmmungen iſt es zuſammen gebildet!

Ferner — iſt offenbar, daß jedes Gemaͤhlde, jede Figur im Gemaͤhlde, und fuͤr den Ken-
ner und Beobachter, jeder Zug den Charakter ſeines Meiſters hat.

Kein einziger Zug aus einem Kupferſtich von Wille hat den vollkommenen Charakter ir-
gend eines einzigen Zuges aus einem von Schmidt.

Laßt hundert Mahler, laßt alle Schuͤler eines und deſſelben Meiſters daſſelbe Bild nach-
zeichnen, und alle Copieen dem Original auffallend aͤhnlich ſeyn — Jede Copie wird dennoch ſicher-
lich einen eigenthuͤmlichen Charakter, den Charakter ihres Verfaſſers, wenigſtens eine Tinktur
davon haben.

Die Sache bedarf keines andern Beweiſes, als des bloßen Anſchauens. Sollte
dieſes von den Zeichnungen und Figuren, die man Handſchriften nennt, weniger wahr ſeyn?

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[111/0165] Charakter der Handſchriften. Wie mit dem menſchlichen Koͤrper; ſo mit den Leidenſchaften, und dem Charakter der Menſchen. Alle ſogenannte Triebe, Faͤhigkeiten, Neigungen, Leidenſchaften, Handlungen — Jeg- liche von jeglicher verſchieden, und jede jeglicher aͤhnlich, keine der andern widerſprechend, obgleich oft aͤußerlich widerſprechend, alle zuſammen verſchworen; ein Complot! das treuſte, das ſich geden- ken laͤßt! Die Aeußerungen und Effekte davon koͤnnen kontraſtiren; koͤnnen vielleicht neben einander zugleich nicht beſtehen; aber die Quelle dieſer Aeußerungen im Grunde nur Eine und ebendieſelbe. Ohne dieß weiter zu entwickeln, oder zu beweiſen; — werd’ ich nun wohl weiter gehen, und ohne Beſorgniß eines Widerſprechers behaupten duͤrfen: Daß alle koͤrperliche Bewegungen des Menſchen ſich nach ſeinem Temperamente und ſei- nem Charakter — modifiziren; daß jede Bewegung des Klugen anders iſt, als dieſelbe Bewegung des Unklugen; daß der Choleriker anders ſchreitet, und ſich traͤgt, als der Phlegmatiker; der San- guiniker anders, als der Melancholiker. — „Daß, (ich glaube Sterne ſagt’s, oder Delabruͤyere?) „der Weiſe ſeinen Hut ganz anders von der Stelle nimmt, wo er ihn hinlegte, als der Thor.“ — Ferner — daß unter allen Bewegungen des menſchlichen Koͤrpers keine ſo mannichfaltig ſey, als die der Hand und der Finger. Und unter allen Bewegungen der Hand und der Finger keine ſo mannichfaltig, als die, wel- che das Schreiben verurſacht. Das einfachſte Wort, das ſo bald hingeſchrieben iſt, wie viele verſchie- den angelegte Punkte enthaͤlt es! aus wie mancherley Kruͤmmungen iſt es zuſammen gebildet! Ferner — iſt offenbar, daß jedes Gemaͤhlde, jede Figur im Gemaͤhlde, und fuͤr den Ken- ner und Beobachter, jeder Zug den Charakter ſeines Meiſters hat. Kein einziger Zug aus einem Kupferſtich von Wille hat den vollkommenen Charakter ir- gend eines einzigen Zuges aus einem von Schmidt. Laßt hundert Mahler, laßt alle Schuͤler eines und deſſelben Meiſters daſſelbe Bild nach- zeichnen, und alle Copieen dem Original auffallend aͤhnlich ſeyn — Jede Copie wird dennoch ſicher- lich einen eigenthuͤmlichen Charakter, den Charakter ihres Verfaſſers, wenigſtens eine Tinktur davon haben. Die Sache bedarf keines andern Beweiſes, als des bloßen Anſchauens. Sollte dieſes von den Zeichnungen und Figuren, die man Handſchriften nennt, weniger wahr ſeyn? Wird

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/165>, abgerufen am 25.04.2024.