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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Charakter der Handschriften.
will's läugnen, daß man's nicht oft einer Schrift leicht ansehen könne, ob sie mit Ruhe oder
Unruhe verfaßt worden? ob sie einen langsamen oder schnellen, ordentlichen oder unordentlicheu,
festen oder schwankenden, leichten oder schwerfälligen Verfasser habe? Sind nicht überhaupt bey-
nahe alle weibliche Handschriften weiblicher, schwankender, als die männlichen? Je mehr ich die
verschiedenen Handschriften, die mir vor die Augen kommen, vergleiche, desto sicherer werd' ich,
daß sie physiognomische Ausdrücke, Ausflüsse von dem Charakter des Schreibers sind. Dieß
wird schon dadurch einigermaßen wahrscheinlich, weil jede Nation, jedes Land, jede Stadt, im
Ganzen genommen, bey aller innern himmelweiten Verschiedenheit, dennoch einen eben so leicht merk-
baren Hauptcharakter im Schreiben hat, als es ihre Physiognomien und Bildungen überhaupt
haben. Dieß mag jeder wissen, der weitläuftige Correspondenz hat. Und wenn er nur wenig
Beobachter ist, wird er oft aus der bloßen Addresse (ich meyne nicht bloß dem Style der Ad-
dresse, der freylich mehrmals, wie die bloßen Aufschriften der Bücher, auch sehr entscheidend
von dem Charakter ihres Verfassers zeuget) ich meyne, aus der bloßen Handschrift der Ad-
dresse, auf den Charakter des Briefstellers schließen können. --

Alle Nationen beynahe, alle Städte haben Nationalhandschriften? -- So wie sie Na-
tionalgesichter haben -- davon jedes was vom Charakter der Nation hat, und dennoch jedes
von jedem so verschieden ist -- So mit den Schülern desselben Schreibmeisters! alle schreiben
ähnlich, und jeder dennoch mischt eine Tinktur seiner Selbstheit bey -- oder er piquirt sich
bloß, nachzuahmen.

"Aber die schönsten, regelmäßigsten Schreiber sind oft die unregelmäßigsten Menschen." --

Wie die besten Prediger -- und dennoch würden die besten Prediger noch unendlich bessere Pre-
diger seyn, wenn sie die besten Menschen wären. So die Schönschreiber. Sie würden noch
edler, noch schöner schreiben, wenn sie zu ihren Talenten noch gerade so viel Herz hätten. Von
einem gewissen Grade von Reinlichkeit und Regelmäßigkeit, ich will nicht sagen: moralischer --
zeugt eine reinliche, regelmäßige Schrift immer.

Nichts
Phys. Fragm. III Versuch. P

Charakter der Handſchriften.
will’s laͤugnen, daß man’s nicht oft einer Schrift leicht anſehen koͤnne, ob ſie mit Ruhe oder
Unruhe verfaßt worden? ob ſie einen langſamen oder ſchnellen, ordentlichen oder unordentlicheu,
feſten oder ſchwankenden, leichten oder ſchwerfaͤlligen Verfaſſer habe? Sind nicht uͤberhaupt bey-
nahe alle weibliche Handſchriften weiblicher, ſchwankender, als die maͤnnlichen? Je mehr ich die
verſchiedenen Handſchriften, die mir vor die Augen kommen, vergleiche, deſto ſicherer werd’ ich,
daß ſie phyſiognomiſche Ausdruͤcke, Ausfluͤſſe von dem Charakter des Schreibers ſind. Dieß
wird ſchon dadurch einigermaßen wahrſcheinlich, weil jede Nation, jedes Land, jede Stadt, im
Ganzen genommen, bey aller innern himmelweiten Verſchiedenheit, dennoch einen eben ſo leicht merk-
baren Hauptcharakter im Schreiben hat, als es ihre Phyſiognomien und Bildungen uͤberhaupt
haben. Dieß mag jeder wiſſen, der weitlaͤuftige Correſpondenz hat. Und wenn er nur wenig
Beobachter iſt, wird er oft aus der bloßen Addreſſe (ich meyne nicht bloß dem Style der Ad-
dreſſe, der freylich mehrmals, wie die bloßen Aufſchriften der Buͤcher, auch ſehr entſcheidend
von dem Charakter ihres Verfaſſers zeuget) ich meyne, aus der bloßen Handſchrift der Ad-
dreſſe, auf den Charakter des Briefſtellers ſchließen koͤnnen. —

Alle Nationen beynahe, alle Staͤdte haben Nationalhandſchriften? — So wie ſie Na-
tionalgeſichter haben — davon jedes was vom Charakter der Nation hat, und dennoch jedes
von jedem ſo verſchieden iſt — So mit den Schuͤlern deſſelben Schreibmeiſters! alle ſchreiben
aͤhnlich, und jeder dennoch miſcht eine Tinktur ſeiner Selbſtheit bey — oder er piquirt ſich
bloß, nachzuahmen.

„Aber die ſchoͤnſten, regelmaͤßigſten Schreiber ſind oft die unregelmaͤßigſten Menſchen.“ —

Wie die beſten Prediger — und dennoch wuͤrden die beſten Prediger noch unendlich beſſere Pre-
diger ſeyn, wenn ſie die beſten Menſchen waͤren. So die Schoͤnſchreiber. Sie wuͤrden noch
edler, noch ſchoͤner ſchreiben, wenn ſie zu ihren Talenten noch gerade ſo viel Herz haͤtten. Von
einem gewiſſen Grade von Reinlichkeit und Regelmaͤßigkeit, ich will nicht ſagen: moraliſcher
zeugt eine reinliche, regelmaͤßige Schrift immer.

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Phyſ. Fragm. III Verſuch. P
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[113/0167] Charakter der Handſchriften. will’s laͤugnen, daß man’s nicht oft einer Schrift leicht anſehen koͤnne, ob ſie mit Ruhe oder Unruhe verfaßt worden? ob ſie einen langſamen oder ſchnellen, ordentlichen oder unordentlicheu, feſten oder ſchwankenden, leichten oder ſchwerfaͤlligen Verfaſſer habe? Sind nicht uͤberhaupt bey- nahe alle weibliche Handſchriften weiblicher, ſchwankender, als die maͤnnlichen? Je mehr ich die verſchiedenen Handſchriften, die mir vor die Augen kommen, vergleiche, deſto ſicherer werd’ ich, daß ſie phyſiognomiſche Ausdruͤcke, Ausfluͤſſe von dem Charakter des Schreibers ſind. Dieß wird ſchon dadurch einigermaßen wahrſcheinlich, weil jede Nation, jedes Land, jede Stadt, im Ganzen genommen, bey aller innern himmelweiten Verſchiedenheit, dennoch einen eben ſo leicht merk- baren Hauptcharakter im Schreiben hat, als es ihre Phyſiognomien und Bildungen uͤberhaupt haben. Dieß mag jeder wiſſen, der weitlaͤuftige Correſpondenz hat. Und wenn er nur wenig Beobachter iſt, wird er oft aus der bloßen Addreſſe (ich meyne nicht bloß dem Style der Ad- dreſſe, der freylich mehrmals, wie die bloßen Aufſchriften der Buͤcher, auch ſehr entſcheidend von dem Charakter ihres Verfaſſers zeuget) ich meyne, aus der bloßen Handſchrift der Ad- dreſſe, auf den Charakter des Briefſtellers ſchließen koͤnnen. — Alle Nationen beynahe, alle Staͤdte haben Nationalhandſchriften? — So wie ſie Na- tionalgeſichter haben — davon jedes was vom Charakter der Nation hat, und dennoch jedes von jedem ſo verſchieden iſt — So mit den Schuͤlern deſſelben Schreibmeiſters! alle ſchreiben aͤhnlich, und jeder dennoch miſcht eine Tinktur ſeiner Selbſtheit bey — oder er piquirt ſich bloß, nachzuahmen. „Aber die ſchoͤnſten, regelmaͤßigſten Schreiber ſind oft die unregelmaͤßigſten Menſchen.“ — Wie die beſten Prediger — und dennoch wuͤrden die beſten Prediger noch unendlich beſſere Pre- diger ſeyn, wenn ſie die beſten Menſchen waͤren. So die Schoͤnſchreiber. Sie wuͤrden noch edler, noch ſchoͤner ſchreiben, wenn ſie zu ihren Talenten noch gerade ſo viel Herz haͤtten. Von einem gewiſſen Grade von Reinlichkeit und Regelmaͤßigkeit, ich will nicht ſagen: moraliſcher — zeugt eine reinliche, regelmaͤßige Schrift immer. Nichts Phyſ. Fragm. III Verſuch. P

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/167>, abgerufen am 24.04.2024.