sen. Wer aber von Natur zerstreut sey, der lasse sich durch Spöttereyen eben so wenig bessern, als ein Hinkender.
Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist, dem unsere besten Bemühungen nicht abhelfen können? Sollte sie wirklich mehr natürliche Verwahrlosung, als üble Angewohnheit seyn? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Auf- merksamkeit? Haben wir es nicht in unserer Ge- walt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unserer Aufmerksam- keit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, seinen itzigen sinnlichen Ein- drücken zu Folge, denken sollte. Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betäubt, nicht ausser Thätigkeit gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwärts thätig. Aber so gut sie dort seyn kann, so gut kann sie auch hier seyn; es ist ihr natürlicher Beruff, bey den sinnlichen Ver- änderungen ihres Körpers gegenwärtig zu seyn; es kostet Mühe, sie dieses Beruffs zu entwöhnen, und es sollte unmöglich seyn, ihr ihn wieder ge- läufig zu machen?
Doch es sey; die Zerstreuung sey unheilbar: wo steht es denn geschrieben, daß wir in der Ko- mödie nur über moralische Fehler, nur über ver- besserliche Untugenden lachen sollen? Jede Un-
ge-
ſen. Wer aber von Natur zerſtreut ſey, der laſſe ſich durch Spoͤttereyen eben ſo wenig beſſern, als ein Hinkender.
Aber iſt es denn wahr, daß die Zerſtreuung ein Gebrechen der Seele iſt, dem unſere beſten Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte ſie wirklich mehr natuͤrliche Verwahrloſung, als uͤble Angewohnheit ſeyn? Ich kann es nicht glauben. Sind wir nicht Meiſter unſerer Auf- merkſamkeit? Haben wir es nicht in unſerer Ge- walt, ſie anzuſtrengen, ſie abzuziehen, wie wir wollen? Und was iſt die Zerſtreuung anders, als ein unrechter Gebrauch unſerer Aufmerkſam- keit? Der Zerſtreute denkt, und denkt nur das nicht, was er, ſeinen itzigen ſinnlichen Ein- druͤcken zu Folge, denken ſollte. Seine Seele iſt nicht entſchlummert, nicht betaͤubt, nicht auſſer Thaͤtigkeit geſetzt; ſie iſt nur abweſend, ſie iſt nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber ſo gut ſie dort ſeyn kann, ſo gut kann ſie auch hier ſeyn; es iſt ihr natuͤrlicher Beruff, bey den ſinnlichen Ver- aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu ſeyn; es koſtet Muͤhe, ſie dieſes Beruffs zu entwoͤhnen, und es ſollte unmoͤglich ſeyn, ihr ihn wieder ge- laͤufig zu machen?
Doch es ſey; die Zerſtreuung ſey unheilbar: wo ſteht es denn geſchrieben, daß wir in der Ko- moͤdie nur uͤber moraliſche Fehler, nur uͤber ver- beſſerliche Untugenden lachen ſollen? Jede Un-
ge-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0237"n="223"/>ſen. Wer aber von Natur zerſtreut ſey, der<lb/>
laſſe ſich durch Spoͤttereyen eben ſo wenig beſſern,<lb/>
als ein Hinkender.</p><lb/><p>Aber iſt es denn wahr, daß die Zerſtreuung<lb/>
ein Gebrechen der Seele iſt, dem unſere beſten<lb/>
Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte ſie<lb/>
wirklich mehr natuͤrliche Verwahrloſung, als<lb/>
uͤble Angewohnheit ſeyn? Ich kann es nicht<lb/>
glauben. Sind wir nicht Meiſter unſerer Auf-<lb/>
merkſamkeit? Haben wir es nicht in unſerer Ge-<lb/>
walt, ſie anzuſtrengen, ſie abzuziehen, wie wir<lb/>
wollen? Und was iſt die Zerſtreuung anders,<lb/>
als ein unrechter Gebrauch unſerer Aufmerkſam-<lb/>
keit? Der Zerſtreute denkt, und denkt nur das<lb/>
nicht, was er, ſeinen itzigen ſinnlichen Ein-<lb/>
druͤcken zu Folge, denken ſollte. Seine Seele<lb/>
iſt nicht entſchlummert, nicht betaͤubt, nicht<lb/>
auſſer Thaͤtigkeit geſetzt; ſie iſt nur abweſend, ſie<lb/>
iſt nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber ſo gut ſie dort<lb/>ſeyn kann, ſo gut kann ſie auch hier ſeyn; es iſt<lb/>
ihr natuͤrlicher Beruff, bey den ſinnlichen Ver-<lb/>
aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu ſeyn;<lb/>
es koſtet Muͤhe, ſie dieſes Beruffs zu entwoͤhnen,<lb/>
und es ſollte unmoͤglich ſeyn, ihr ihn wieder ge-<lb/>
laͤufig zu machen?</p><lb/><p>Doch es ſey; die Zerſtreuung ſey unheilbar:<lb/>
wo ſteht es denn geſchrieben, daß wir in der Ko-<lb/>
moͤdie nur uͤber moraliſche Fehler, nur uͤber ver-<lb/>
beſſerliche Untugenden lachen ſollen? Jede Un-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ge-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[223/0237]
ſen. Wer aber von Natur zerſtreut ſey, der
laſſe ſich durch Spoͤttereyen eben ſo wenig beſſern,
als ein Hinkender.
Aber iſt es denn wahr, daß die Zerſtreuung
ein Gebrechen der Seele iſt, dem unſere beſten
Bemuͤhungen nicht abhelfen koͤnnen? Sollte ſie
wirklich mehr natuͤrliche Verwahrloſung, als
uͤble Angewohnheit ſeyn? Ich kann es nicht
glauben. Sind wir nicht Meiſter unſerer Auf-
merkſamkeit? Haben wir es nicht in unſerer Ge-
walt, ſie anzuſtrengen, ſie abzuziehen, wie wir
wollen? Und was iſt die Zerſtreuung anders,
als ein unrechter Gebrauch unſerer Aufmerkſam-
keit? Der Zerſtreute denkt, und denkt nur das
nicht, was er, ſeinen itzigen ſinnlichen Ein-
druͤcken zu Folge, denken ſollte. Seine Seele
iſt nicht entſchlummert, nicht betaͤubt, nicht
auſſer Thaͤtigkeit geſetzt; ſie iſt nur abweſend, ſie
iſt nur anderwaͤrts thaͤtig. Aber ſo gut ſie dort
ſeyn kann, ſo gut kann ſie auch hier ſeyn; es iſt
ihr natuͤrlicher Beruff, bey den ſinnlichen Ver-
aͤnderungen ihres Koͤrpers gegenwaͤrtig zu ſeyn;
es koſtet Muͤhe, ſie dieſes Beruffs zu entwoͤhnen,
und es ſollte unmoͤglich ſeyn, ihr ihn wieder ge-
laͤufig zu machen?
Doch es ſey; die Zerſtreuung ſey unheilbar:
wo ſteht es denn geſchrieben, daß wir in der Ko-
moͤdie nur uͤber moraliſche Fehler, nur uͤber ver-
beſſerliche Untugenden lachen ſollen? Jede Un-
ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/237>, abgerufen am 15.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.