Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer-
de. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen ent-
weder unter Freunden, oder unter Feinden,
oder unter gleichgültigen Personen vorgehen.
Wenn ein Feind seinen Feind tödtet, so erweckt
weder der Anschlag noch die Ausführung der
That sonst weiter einiges Mitleid, als das all-
gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz-
lichen und Verderblichen überhaupt, verbunden
ist. Und so ist es auch bey gleichgültigen Per-
sonen. Folglich müssen die tragischen Begeben-
heiten sich unter Freunden eräugnen; ein Bru-
der muß den Bruder, ein Sohn den Vater,
eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter
tödten, oder tödten wollen, oder sonst auf eine
empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhan-
deln wollen. Dieses aber kann entweder mit,
oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen;
und da die That entweder vollführt oder nicht
vollführt werden muß: so entstehen daraus vier
Klassen von Begebenheiten, welche den Absich-
ten des Trauerspiels mehr oder weniger entspre-
chen. Die erste: wenn die That wissentlich,
mit völliger Kenntniß der Person, gegen welche
sie vollzogen werden soll, unternommen, aber
nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn sie
wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen
wird. Die dritte: wenn die That unwissend,
ohne Kenntniß des Gegenstandes, unternom-

men
O o 3

gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer-
de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent-
weder unter Freunden, oder unter Feinden,
oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen.
Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt
weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der
That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all-
gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz-
lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden
iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per-
ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben-
heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru-
der muß den Bruder, ein Sohn den Vater,
eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter
toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine
empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan-
deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit,
oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen;
und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht
vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier
Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich-
ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre-
chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich,
mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche
ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber
nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie
wiſſentlich unternommen, und wirklich vollzogen
wird. Die dritte: wenn die That unwiſſend,
ohne Kenntniß des Gegenſtandes, unternom-

men
O o 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0307" n="293"/>
gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer-<lb/>
de. Alle Begebenheiten, &#x017F;agt er, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ent-<lb/>
weder unter Freunden, oder unter Feinden,<lb/>
oder unter gleichgu&#x0364;ltigen Per&#x017F;onen vorgehen.<lb/>
Wenn ein Feind &#x017F;einen Feind to&#x0364;dtet, &#x017F;o erweckt<lb/>
weder der An&#x017F;chlag noch die Ausfu&#x0364;hrung der<lb/>
That &#x017F;on&#x017F;t weiter einiges Mitleid, als das all-<lb/>
gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz-<lb/>
lichen und Verderblichen u&#x0364;berhaupt, verbunden<lb/>
i&#x017F;t. Und &#x017F;o i&#x017F;t es auch bey gleichgu&#x0364;ltigen Per-<lb/>
&#x017F;onen. Folglich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die tragi&#x017F;chen Begeben-<lb/>
heiten &#x017F;ich unter Freunden era&#x0364;ugnen; ein Bru-<lb/>
der muß den Bruder, ein Sohn den Vater,<lb/>
eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter<lb/>
to&#x0364;dten, oder to&#x0364;dten wollen, oder &#x017F;on&#x017F;t auf eine<lb/>
empfindliche Wei&#x017F;e mißhandeln, oder mißhan-<lb/>
deln wollen. Die&#x017F;es aber kann entweder mit,<lb/>
oder ohne Wi&#x017F;&#x017F;en und Vorbedacht ge&#x017F;chehen;<lb/>
und da die That entweder vollfu&#x0364;hrt oder nicht<lb/>
vollfu&#x0364;hrt werden muß: &#x017F;o ent&#x017F;tehen daraus vier<lb/>
Kla&#x017F;&#x017F;en von Begebenheiten, welche den Ab&#x017F;ich-<lb/>
ten des Trauer&#x017F;piels mehr oder weniger ent&#x017F;pre-<lb/>
chen. Die er&#x017F;te: wenn die That wi&#x017F;&#x017F;entlich,<lb/>
mit vo&#x0364;lliger Kenntniß der Per&#x017F;on, gegen welche<lb/>
&#x017F;ie vollzogen werden &#x017F;oll, unternommen, aber<lb/>
nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn &#x017F;ie<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;entlich unternommen, und wirklich vollzogen<lb/>
wird. Die dritte: wenn die That unwi&#x017F;&#x017F;end,<lb/>
ohne Kenntniß des Gegen&#x017F;tandes, unternom-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O o 3</fw><fw place="bottom" type="catch">men</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0307] gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer- de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent- weder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen. Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all- gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz- lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per- ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben- heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru- der muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan- deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit, oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen; und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich- ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre- chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich, mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie wiſſentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die That unwiſſend, ohne Kenntniß des Gegenſtandes, unternom- men O o 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/307
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/307>, abgerufen am 16.05.2024.