Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

wird. Und wie vollkommen wohl jener trä-
gischste Glückswechsel mit der tragischsten Be-
handlung des Leidens sich in einer und eben der-
selben Fabel verbinden lasse, kann man an der
Merope selbst zeigen. Sie hat die letztere; aber
was hindert es, daß sie nicht auch die erstere ha-
ben könnte, wenn nehmlich Merope, nachdem
sie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch
ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den
Polyphont zu schützen, entweder ihr eigenes oder
dieses geliebten Sohnes Verderben beförderte?
Warum könnte sich dieses Stück nicht eben so-
wohl mit dem Untergange der Mutter, als des
Tyrannen schliessen? Warum sollte es einem
Dichter nicht frey stehen können, um unser Mit-
leiden gegen eine so zärtliche Mutter auf das
höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit
selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum
sollte es ihm nicht erlaubt seyn, den Sohn, den
er der frommen Rache seiner Mutter entrissen,
gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen
unterliegen zu lassen? Würde eine solche Me-
rope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden
Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden,
die man bey dem Kunstrichter so widersprechend
findet?

Ich merke wohl, was das Mißverständniß ver-
anlasset haben kann. Man hat sich einen Glücks-
wechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht

ohne

wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ-
giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be-
handlung des Leidens ſich in einer und eben der-
ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der
Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber
was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha-
ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem
ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch
ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den
Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder
dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte?
Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo-
wohl mit dem Untergange der Mutter, als des
Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem
Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit-
leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das
hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit
ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum
ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den
er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen,
gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen
unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me-
rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden
Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden,
die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend
findet?

Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver-
anlaſſet haben kann. Man hat ſich einen Gluͤcks-
wechſel aus dem Beſſern in das Schlimmere nicht

ohne
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0317" n="303"/>
wird. Und wie vollkommen wohl jener tra&#x0364;-<lb/>
gi&#x017F;ch&#x017F;te Glu&#x0364;ckswech&#x017F;el mit der tragi&#x017F;ch&#x017F;ten Be-<lb/>
handlung des Leidens &#x017F;ich in einer und eben der-<lb/>
&#x017F;elben Fabel verbinden la&#x017F;&#x017F;e, kann man an der<lb/>
Merope &#x017F;elb&#x017F;t zeigen. Sie hat die letztere; aber<lb/>
was hindert es, daß &#x017F;ie nicht auch die er&#x017F;tere ha-<lb/>
ben ko&#x0364;nnte, wenn nehmlich Merope, nachdem<lb/>
&#x017F;ie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch<lb/>
ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den<lb/>
Polyphont zu &#x017F;chu&#x0364;tzen, entweder ihr eigenes oder<lb/>
die&#x017F;es geliebten Sohnes Verderben befo&#x0364;rderte?<lb/>
Warum ko&#x0364;nnte &#x017F;ich die&#x017F;es Stu&#x0364;ck nicht eben &#x017F;o-<lb/>
wohl mit dem Untergange der Mutter, als des<lb/>
Tyrannen &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en? Warum &#x017F;ollte es einem<lb/>
Dichter nicht frey &#x017F;tehen ko&#x0364;nnen, um un&#x017F;er Mit-<lb/>
leiden gegen eine &#x017F;o za&#x0364;rtliche Mutter auf das<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te zu treiben, &#x017F;ie durch ihre Za&#x0364;rtlichkeit<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t unglu&#x0364;cklich werden zu la&#x017F;&#x017F;en? Oder warum<lb/>
&#x017F;ollte es ihm nicht erlaubt &#x017F;eyn, den Sohn, den<lb/>
er der frommen Rache &#x017F;einer Mutter entri&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
gleichwohl den Nach&#x017F;tellungen des Tyrannen<lb/>
unterliegen zu la&#x017F;&#x017F;en? Wu&#x0364;rde eine &#x017F;olche Me-<lb/>
rope, in beiden Fa&#x0364;llen, nicht wirklich die beiden<lb/>
Eigen&#x017F;chaften des be&#x017F;ten Trauer&#x017F;piels verbinden,<lb/>
die man bey dem Kun&#x017F;trichter &#x017F;o wider&#x017F;prechend<lb/>
findet?</p><lb/>
        <p>Ich merke wohl, was das Mißver&#x017F;ta&#x0364;ndniß ver-<lb/>
anla&#x017F;&#x017F;et haben kann. Man hat &#x017F;ich einen Glu&#x0364;cks-<lb/>
wech&#x017F;el aus dem Be&#x017F;&#x017F;ern in das Schlimmere nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ohne</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0317] wird. Und wie vollkommen wohl jener traͤ- giſchſte Gluͤckswechſel mit der tragiſchſten Be- handlung des Leidens ſich in einer und eben der- ſelben Fabel verbinden laſſe, kann man an der Merope ſelbſt zeigen. Sie hat die letztere; aber was hindert es, daß ſie nicht auch die erſtere ha- ben koͤnnte, wenn nehmlich Merope, nachdem ſie ihren Sohn unter dem Dolche erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu ſchuͤtzen, entweder ihr eigenes oder dieſes geliebten Sohnes Verderben befoͤrderte? Warum koͤnnte ſich dieſes Stuͤck nicht eben ſo- wohl mit dem Untergange der Mutter, als des Tyrannen ſchlieſſen? Warum ſollte es einem Dichter nicht frey ſtehen koͤnnen, um unſer Mit- leiden gegen eine ſo zaͤrtliche Mutter auf das hoͤchſte zu treiben, ſie durch ihre Zaͤrtlichkeit ſelbſt ungluͤcklich werden zu laſſen? Oder warum ſollte es ihm nicht erlaubt ſeyn, den Sohn, den er der frommen Rache ſeiner Mutter entriſſen, gleichwohl den Nachſtellungen des Tyrannen unterliegen zu laſſen? Wuͤrde eine ſolche Me- rope, in beiden Faͤllen, nicht wirklich die beiden Eigenſchaften des beſten Trauerſpiels verbinden, die man bey dem Kunſtrichter ſo widerſprechend findet? Ich merke wohl, was das Mißverſtaͤndniß ver- anlaſſet haben kann. Man hat ſich einen Gluͤcks- wechſel aus dem Beſſern in das Schlimmere nicht ohne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/317
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/317>, abgerufen am 27.04.2024.