Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

auf die andern, als auf ausserordentliche Erschei-
nungen in dem Reiche der Sitten, welche die
Vernunft in Erstaunen, und das Herz in Tu-
mult setzen, die Tragödie einzuschränken. Das
Genie lacht über alle die Grenzscheidungen der
Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, daß das
Schauspiel überhaupt seinen Vorwurf entweder
disseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes
wählet, und die eigentlichen Gegenstände dessel-
ben nur in so fern behandelt, als sie sich entweder
in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Ab-
scheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt-
lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha-
raktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es
war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig
unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff aus
den unglücklichen Zeiten der Kreutzzüge genom-
men ist, die Toleranz predigen, und die Abscheu-
lichkeiten des Geistes der Verfolgung an den
Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen
zu wollen. Denn diese Kreutzzüge selbst, die
in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der
Päbste waren, wurden in ihrer Ausführung die
unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der
christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht
hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors
hatte damals die wahre Religion; und einzelne

Per-

auf die andern, als auf auſſerordentliche Erſchei-
nungen in dem Reiche der Sitten, welche die
Vernunft in Erſtaunen, und das Herz in Tu-
mult ſetzen, die Tragoͤdie einzuſchraͤnken. Das
Genie lacht uͤber alle die Grenzſcheidungen der
Kritik. Aber ſo viel iſt doch unſtreitig, daß das
Schauſpiel uͤberhaupt ſeinen Vorwurf entweder
diſſeits oder jenſeits der Grenzen des Geſetzes
waͤhlet, und die eigentlichen Gegenſtaͤnde deſſel-
ben nur in ſo fern behandelt, als ſie ſich entweder
in das Laͤcherliche verlieren, oder bis in das Ab-
ſcheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt-
lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha-
raktere des Trauerſpiels mit abzwecken. Es
war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig
unuͤberlegt, in einem Stuͤcke, deſſen Stoff aus
den ungluͤcklichen Zeiten der Kreutzzuͤge genom-
men iſt, die Toleranz predigen, und die Abſcheu-
lichkeiten des Geiſtes der Verfolgung an den
Bekennern der mahomedaniſchen Religion zeigen
zu wollen. Denn dieſe Kreutzzuͤge ſelbſt, die
in ihrer Anlage ein politiſcher Kunſtgriff der
Paͤbſte waren, wurden in ihrer Ausfuͤhrung die
unmenſchlichſten Verfolgungen, deren ſich der
chriſtliche Aberglaube jemals ſchuldig gemacht
hat; die meiſten und blutgierigſten Iſmenors
hatte damals die wahre Religion; und einzelne

Per-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0064" n="50"/>
auf die andern, als auf au&#x017F;&#x017F;erordentliche Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen in dem Reiche der Sitten, welche die<lb/>
Vernunft in Er&#x017F;taunen, und das Herz in Tu-<lb/>
mult &#x017F;etzen, die Trago&#x0364;die einzu&#x017F;chra&#x0364;nken. Das<lb/>
Genie lacht u&#x0364;ber alle die Grenz&#x017F;cheidungen der<lb/>
Kritik. Aber &#x017F;o viel i&#x017F;t doch un&#x017F;treitig, daß das<lb/>
Schau&#x017F;piel u&#x0364;berhaupt &#x017F;einen Vorwurf entweder<lb/>
di&#x017F;&#x017F;eits oder jen&#x017F;eits der Grenzen des Ge&#x017F;etzes<lb/>
wa&#x0364;hlet, und die eigentlichen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben nur in &#x017F;o fern behandelt, als &#x017F;ie &#x017F;ich entweder<lb/>
in das La&#x0364;cherliche verlieren, oder bis in das Ab-<lb/>
&#x017F;cheuliche verbreiten.</p><lb/>
        <p>Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt-<lb/>
lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha-<lb/>
raktere des Trauer&#x017F;piels mit abzwecken. Es<lb/>
war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig<lb/>
unu&#x0364;berlegt, in einem Stu&#x0364;cke, de&#x017F;&#x017F;en Stoff aus<lb/>
den unglu&#x0364;cklichen Zeiten der Kreutzzu&#x0364;ge genom-<lb/>
men i&#x017F;t, die Toleranz predigen, und die Ab&#x017F;cheu-<lb/>
lichkeiten des Gei&#x017F;tes der Verfolgung an den<lb/>
Bekennern der mahomedani&#x017F;chen Religion zeigen<lb/>
zu wollen. Denn die&#x017F;e Kreutzzu&#x0364;ge &#x017F;elb&#x017F;t, die<lb/>
in ihrer Anlage ein politi&#x017F;cher Kun&#x017F;tgriff der<lb/>
Pa&#x0364;b&#x017F;te waren, wurden in ihrer Ausfu&#x0364;hrung die<lb/>
unmen&#x017F;chlich&#x017F;ten Verfolgungen, deren &#x017F;ich der<lb/>
chri&#x017F;tliche Aberglaube jemals &#x017F;chuldig gemacht<lb/>
hat; die mei&#x017F;ten und blutgierig&#x017F;ten I&#x017F;menors<lb/>
hatte damals die wahre Religion; und einzelne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Per-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0064] auf die andern, als auf auſſerordentliche Erſchei- nungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erſtaunen, und das Herz in Tu- mult ſetzen, die Tragoͤdie einzuſchraͤnken. Das Genie lacht uͤber alle die Grenzſcheidungen der Kritik. Aber ſo viel iſt doch unſtreitig, daß das Schauſpiel uͤberhaupt ſeinen Vorwurf entweder diſſeits oder jenſeits der Grenzen des Geſetzes waͤhlet, und die eigentlichen Gegenſtaͤnde deſſel- ben nur in ſo fern behandelt, als ſie ſich entweder in das Laͤcherliche verlieren, oder bis in das Ab- ſcheuliche verbreiten. Der Epilog verweilet bey einer von den Haupt- lehren, auf welche ein Theil der Fabel und Cha- raktere des Trauerſpiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unuͤberlegt, in einem Stuͤcke, deſſen Stoff aus den ungluͤcklichen Zeiten der Kreutzzuͤge genom- men iſt, die Toleranz predigen, und die Abſcheu- lichkeiten des Geiſtes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedaniſchen Religion zeigen zu wollen. Denn dieſe Kreutzzuͤge ſelbſt, die in ihrer Anlage ein politiſcher Kunſtgriff der Paͤbſte waren, wurden in ihrer Ausfuͤhrung die unmenſchlichſten Verfolgungen, deren ſich der chriſtliche Aberglaube jemals ſchuldig gemacht hat; die meiſten und blutgierigſten Iſmenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Per-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/64
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/64>, abgerufen am 29.04.2024.