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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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rig und schielend. Denn wo ist der glückliche
Versificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie
der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort
etwas stärker oder schwächer, früher oder später,
sagen liesse, als er es, frey von diesem Zwange,
würde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer
dieses nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht
Geschmack, nicht Muth genug hat, hier einen
Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher
den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine
Ellipsis zu ergänzen oder anzubringen: so wird
er uns alle Nachläßigkeiten seines Originals
überliefert, und ihnen nichts als die Entschul-
digung benommen haben, welche die Schwierig-
keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der
Grundsprache für sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer
Aktrice gespielet, die nach einer neunjährigen
Entfernung vom Theater, aufs neue in allen
den Vollkommenheiten wieder erschien, die Ken-
ner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht,
ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten.
Madame Löwen verbindet mit dem silbernen
Tone der sonoresten lieblichsten Stimme, mit
dem offensten, ruhigsten und gleichwohl aus-
druckfähigsten Gesichte von der Welt, das
feinste schnellste Gefühl, die sicherste wärmste
Empfindung, die sich, zwar nicht immer so leb-
haft, als es viele wünschen, doch allezeit mit

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rig und ſchielend. Denn wo iſt der gluͤckliche
Verſificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie
der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort
etwas ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, fruͤher oder ſpaͤter,
ſagen lieſſe, als er es, frey von dieſem Zwange,
wuͤrde geſagt haben? Wenn nun der Ueberſetzer
dieſes nicht zu unterſcheiden weiß; wenn er nicht
Geſchmack, nicht Muth genug hat, hier einen
Nebenbegriff wegzulaſſen, da ſtatt der Metapher
den eigentlichen Ausdruck zu ſetzen, dort eine
Ellipſis zu ergaͤnzen oder anzubringen: ſo wird
er uns alle Nachlaͤßigkeiten ſeines Originals
uͤberliefert, und ihnen nichts als die Entſchul-
digung benommen haben, welche die Schwierig-
keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der
Grundſprache fuͤr ſie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer
Aktrice geſpielet, die nach einer neunjaͤhrigen
Entfernung vom Theater, aufs neue in allen
den Vollkommenheiten wieder erſchien, die Ken-
ner und Nichtkenner, mit und ohne Einſicht,
ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten.
Madame Loͤwen verbindet mit dem ſilbernen
Tone der ſonoreſten lieblichſten Stimme, mit
dem offenſten, ruhigſten und gleichwohl aus-
druckfaͤhigſten Geſichte von der Welt, das
feinſte ſchnellſte Gefuͤhl, die ſicherſte waͤrmſte
Empfindung, die ſich, zwar nicht immer ſo leb-
haft, als es viele wuͤnſchen, doch allezeit mit

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[59/0073] rig und ſchielend. Denn wo iſt der gluͤckliche Verſificateur, den nie das Sylbenmaaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, fruͤher oder ſpaͤter, ſagen lieſſe, als er es, frey von dieſem Zwange, wuͤrde geſagt haben? Wenn nun der Ueberſetzer dieſes nicht zu unterſcheiden weiß; wenn er nicht Geſchmack, nicht Muth genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulaſſen, da ſtatt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu ſetzen, dort eine Ellipſis zu ergaͤnzen oder anzubringen: ſo wird er uns alle Nachlaͤßigkeiten ſeines Originals uͤberliefert, und ihnen nichts als die Entſchul- digung benommen haben, welche die Schwierig- keiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundſprache fuͤr ſie machen. Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice geſpielet, die nach einer neunjaͤhrigen Entfernung vom Theater, aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erſchien, die Ken- ner und Nichtkenner, mit und ohne Einſicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loͤwen verbindet mit dem ſilbernen Tone der ſonoreſten lieblichſten Stimme, mit dem offenſten, ruhigſten und gleichwohl aus- druckfaͤhigſten Geſichte von der Welt, das feinſte ſchnellſte Gefuͤhl, die ſicherſte waͤrmſte Empfindung, die ſich, zwar nicht immer ſo leb- haft, als es viele wuͤnſchen, doch allezeit mit An- H 2

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/73>, abgerufen am 27.04.2024.