Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

dern er läßt es vor unsern Augen nochmals ge-
schehen; und läßt es nochmals geschehen, nicht
der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern
in einer ganz andern und höhern Absicht; die
historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, son-
dern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will
uns täuschen, und durch die Täuschung rühren.
Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine Ge-
spenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglau-
ben die Täuschung nothwendig verhindern müß-
te; wenn ohne Täuschung wir unmöglich sym-
pathisiren können: so handelt itzt der dramatische
Dichter wider sich selbst, wenn er uns dem ohn-
geachtet solche unglaubliche Mährchen ausstaffi-
ret; alle Kunst, die er dabey anwendet, ist ver-
loren.

Folglich? Folglich ist es durchaus nicht er-
laubt, Gespenster und Erscheinungen auf die
Bühne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des
Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrock-
net? Nein; dieser Verlust wäre für die Poesie
zu groß; und hat sie nicht Beyspiele für sich,
wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet,
und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spöt-
tisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fürch-
terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher
anders fallen; und die Voraussetzung wird nur
falsch seyn. Wir glauben keine Gespenster

mehr?
L 2

dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge-
ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht
der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern
in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die
hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon-
dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will
uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren.
Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge-
ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau-
ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß-
te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym-
pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche
Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn-
geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi-
ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver-
loren.

Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er-
laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die
Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des
Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock-
net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie
zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich,
wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet,
und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt-
tiſch vorkommen, unſerer Einbildung ſehr fuͤrch-
terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher
anders fallen; und die Vorausſetzung wird nur
falſch ſeyn. Wir glauben keine Geſpenſter

mehr?
L 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="83"/>
dern er la&#x0364;ßt es vor un&#x017F;ern Augen nochmals ge-<lb/>
&#x017F;chehen; und la&#x0364;ßt es nochmals ge&#x017F;chehen, nicht<lb/>
der bloßen hi&#x017F;tori&#x017F;chen Wahrheit wegen, &#x017F;ondern<lb/>
in einer ganz andern und ho&#x0364;hern Ab&#x017F;icht; die<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;che Wahrheit i&#x017F;t nicht &#x017F;ein Zweck, &#x017F;on-<lb/>
dern nur das Mittel zu &#x017F;einem Zwecke; er will<lb/>
uns ta&#x0364;u&#x017F;chen, und durch die Ta&#x0364;u&#x017F;chung ru&#x0364;hren.<lb/>
Wenn es al&#x017F;o wahr i&#x017F;t, daß wir itzt keine Ge-<lb/>
&#x017F;pen&#x017F;ter mehr glauben; wenn die&#x017F;es Nichtglau-<lb/>
ben die Ta&#x0364;u&#x017F;chung nothwendig verhindern mu&#x0364;ß-<lb/>
te; wenn ohne Ta&#x0364;u&#x017F;chung wir unmo&#x0364;glich &#x017F;ym-<lb/>
pathi&#x017F;iren ko&#x0364;nnen: &#x017F;o handelt itzt der dramati&#x017F;che<lb/>
Dichter wider &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, wenn er uns dem ohn-<lb/>
geachtet &#x017F;olche unglaubliche Ma&#x0364;hrchen aus&#x017F;taffi-<lb/>
ret; alle Kun&#x017F;t, die er dabey anwendet, i&#x017F;t ver-<lb/>
loren.</p><lb/>
        <p>Folglich? Folglich i&#x017F;t es durchaus nicht er-<lb/>
laubt, Ge&#x017F;pen&#x017F;ter und Er&#x017F;cheinungen auf die<lb/>
Bu&#x0364;hne zu bringen? Folglich i&#x017F;t die&#x017F;e Quelle des<lb/>
Schrecklichen und Patheti&#x017F;chen fu&#x0364;r uns vertrock-<lb/>
net? Nein; die&#x017F;er Verlu&#x017F;t wa&#x0364;re fu&#x0364;r die Poe&#x017F;ie<lb/>
zu groß; und hat &#x017F;ie nicht Bey&#x017F;piele fu&#x0364;r &#x017F;ich,<lb/>
wo das Genie aller un&#x017F;erer Philo&#x017F;ophie trotzet,<lb/>
und Dinge, die der kalten Vernunft &#x017F;ehr &#x017F;po&#x0364;t-<lb/>
ti&#x017F;ch vorkommen, un&#x017F;erer Einbildung &#x017F;ehr fu&#x0364;rch-<lb/>
terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher<lb/>
anders fallen; und die Voraus&#x017F;etzung wird nur<lb/>
fal&#x017F;ch &#x017F;eyn. Wir glauben keine Ge&#x017F;pen&#x017F;ter<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 2</fw><fw place="bottom" type="catch">mehr?</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0097] dern er laͤßt es vor unſern Augen nochmals ge- ſchehen; und laͤßt es nochmals geſchehen, nicht der bloßen hiſtoriſchen Wahrheit wegen, ſondern in einer ganz andern und hoͤhern Abſicht; die hiſtoriſche Wahrheit iſt nicht ſein Zweck, ſon- dern nur das Mittel zu ſeinem Zwecke; er will uns taͤuſchen, und durch die Taͤuſchung ruͤhren. Wenn es alſo wahr iſt, daß wir itzt keine Ge- ſpenſter mehr glauben; wenn dieſes Nichtglau- ben die Taͤuſchung nothwendig verhindern muͤß- te; wenn ohne Taͤuſchung wir unmoͤglich ſym- pathiſiren koͤnnen: ſo handelt itzt der dramatiſche Dichter wider ſich ſelbſt, wenn er uns dem ohn- geachtet ſolche unglaubliche Maͤhrchen ausſtaffi- ret; alle Kunſt, die er dabey anwendet, iſt ver- loren. Folglich? Folglich iſt es durchaus nicht er- laubt, Geſpenſter und Erſcheinungen auf die Buͤhne zu bringen? Folglich iſt dieſe Quelle des Schrecklichen und Pathetiſchen fuͤr uns vertrock- net? Nein; dieſer Verluſt waͤre fuͤr die Poeſie zu groß; und hat ſie nicht Beyſpiele fuͤr ſich, wo das Genie aller unſerer Philoſophie trotzet, und Dinge, die der kalten Vernunft ſehr ſpoͤt- tiſch vorkommen, unſerer Einbildung ſehr fuͤrch- terlich zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Vorausſetzung wird nur falſch ſeyn. Wir glauben keine Geſpenſter mehr? L 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/97
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/97>, abgerufen am 28.04.2024.