Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

eine moralische Güte: nur daß ihm tugendhaf-
te Personen, und Personen, welche in gewissen
Umständen tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei-
nerley sind. Kurz, Corneille verbindet eine
ganz falsche Jdee mit dem Worte Sitten, und
was die Proäresis ist, durch welche allein, nach
unserm Weltweisen, freye Handlungen zu guten
oder bösen Sitten werden, hat er gar nicht ver-
standen. Jch kann mich itzt nicht in einen weit-
läuftigen Beweis einlassen; er läßt sich nur
durch den Zusammenhang, durch die syllogisti-
sche Folge aller Jdeen des griechischen Kunst-
richters, einleuchtend genug führen. Jch ver-
spare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da
es bey dieser ohnedem nur darauf ankömmt, zu
zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg
Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges,
ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: daß Ari-
stoteles unter der Güte der Sitten den glänzen-
den und erhabnen Charakter irgend einer tugend-
haften oder strafbaren Neigung verstehe, so wie
sie der eingeführten Person entweder eigenthüm-
lich zukomme, oder ihr schicklich beygeleget
werden könne: le caractere brillant & ele-
ve d'une habitude vertueuse ou crimi-
nelle, selon qu'elle est propre & conve-
nable a la personne qu'on introduit.

"Clcopatra in der Rodogune, sagt er, ist äus-
"serst böse; da ist kein Meuchelmord, vor dem

"sie

eine moraliſche Güte: nur daß ihm tugendhaf-
te Perſonen, und Perſonen, welche in gewiſſen
Umſtänden tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei-
nerley ſind. Kurz, Corneille verbindet eine
ganz falſche Jdee mit dem Worte Sitten, und
was die Proäreſis iſt, durch welche allein, nach
unſerm Weltweiſen, freye Handlungen zu guten
oder böſen Sitten werden, hat er gar nicht ver-
ſtanden. Jch kann mich itzt nicht in einen weit-
läuftigen Beweis einlaſſen; er läßt ſich nur
durch den Zuſammenhang, durch die ſyllogiſti-
ſche Folge aller Jdeen des griechiſchen Kunſt-
richters, einleuchtend genug führen. Jch ver-
ſpare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da
es bey dieſer ohnedem nur darauf ankömmt, zu
zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg
Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges,
ergriffen. Dieſer Ausweg lief dahin: daß Ari-
ſtoteles unter der Güte der Sitten den glänzen-
den und erhabnen Charakter irgend einer tugend-
haften oder ſtrafbaren Neigung verſtehe, ſo wie
ſie der eingeführten Perſon entweder eigenthüm-
lich zukomme, oder ihr ſchicklich beygeleget
werden könne: le caractere brillant & éle-
vé d’une habitude vertueuſe ou crimi-
nelle, ſelon qu’elle eſt propre & conve-
nable à la perſonne qu’on introduit.

„Clcopatra in der Rodogune, ſagt er, iſt äuſ-
„ſerſt böſe; da iſt kein Meuchelmord, vor dem

„ſie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0248" n="242"/>
eine morali&#x017F;che Güte: nur daß ihm tugendhaf-<lb/>
te Per&#x017F;onen, und Per&#x017F;onen, welche in gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Um&#x017F;tänden tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei-<lb/>
nerley &#x017F;ind. Kurz, Corneille verbindet eine<lb/>
ganz fal&#x017F;che Jdee mit dem Worte Sitten, und<lb/>
was die Proäre&#x017F;is i&#x017F;t, durch welche allein, nach<lb/>
un&#x017F;erm Weltwei&#x017F;en, freye Handlungen zu guten<lb/>
oder bö&#x017F;en Sitten werden, hat er gar nicht ver-<lb/>
&#x017F;tanden. Jch kann mich itzt nicht in einen weit-<lb/>
läuftigen Beweis einla&#x017F;&#x017F;en; er läßt &#x017F;ich nur<lb/>
durch den Zu&#x017F;ammenhang, durch die &#x017F;yllogi&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;che Folge aller Jdeen des griechi&#x017F;chen Kun&#x017F;t-<lb/>
richters, einleuchtend genug führen. Jch ver-<lb/>
&#x017F;pare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da<lb/>
es bey die&#x017F;er ohnedem nur darauf ankömmt, zu<lb/>
zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg<lb/>
Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges,<lb/>
ergriffen. Die&#x017F;er Ausweg lief dahin: daß Ari-<lb/>
&#x017F;toteles unter der Güte der Sitten den glänzen-<lb/>
den und erhabnen Charakter irgend einer tugend-<lb/>
haften oder &#x017F;trafbaren Neigung ver&#x017F;tehe, &#x017F;o wie<lb/>
&#x017F;ie der eingeführten Per&#x017F;on entweder eigenthüm-<lb/>
lich zukomme, oder ihr &#x017F;chicklich beygeleget<lb/>
werden könne: <hi rendition="#aq">le caractere brillant &amp; éle-<lb/>
vé d&#x2019;une habitude vertueu&#x017F;e ou crimi-<lb/>
nelle, &#x017F;elon qu&#x2019;elle e&#x017F;t propre &amp; conve-<lb/>
nable à la per&#x017F;onne qu&#x2019;on introduit.</hi><lb/>
&#x201E;Clcopatra in der Rodogune, &#x017F;agt er, i&#x017F;t äu&#x017F;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;er&#x017F;t bö&#x017F;e; da i&#x017F;t kein Meuchelmord, vor dem<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;&#x017F;ie</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0248] eine moraliſche Güte: nur daß ihm tugendhaf- te Perſonen, und Perſonen, welche in gewiſſen Umſtänden tugendhafte Sitten zeigen, nicht ei- nerley ſind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falſche Jdee mit dem Worte Sitten, und was die Proäreſis iſt, durch welche allein, nach unſerm Weltweiſen, freye Handlungen zu guten oder böſen Sitten werden, hat er gar nicht ver- ſtanden. Jch kann mich itzt nicht in einen weit- läuftigen Beweis einlaſſen; er läßt ſich nur durch den Zuſammenhang, durch die ſyllogiſti- ſche Folge aller Jdeen des griechiſchen Kunſt- richters, einleuchtend genug führen. Jch ver- ſpare ihn daher auf eine andere Gelegenheit, da es bey dieſer ohnedem nur darauf ankömmt, zu zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg Corneille, bey Verfehlung des richtigen Weges, ergriffen. Dieſer Ausweg lief dahin: daß Ari- ſtoteles unter der Güte der Sitten den glänzen- den und erhabnen Charakter irgend einer tugend- haften oder ſtrafbaren Neigung verſtehe, ſo wie ſie der eingeführten Perſon entweder eigenthüm- lich zukomme, oder ihr ſchicklich beygeleget werden könne: le caractere brillant & éle- vé d’une habitude vertueuſe ou crimi- nelle, ſelon qu’elle eſt propre & conve- nable à la perſonne qu’on introduit. „Clcopatra in der Rodogune, ſagt er, iſt äuſ- „ſerſt böſe; da iſt kein Meuchelmord, vor dem „ſie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/248
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/248>, abgerufen am 28.03.2024.