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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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Jener Vater, der seinen uneinigen Söhnen die
Vortheile der Eintracht an einem Bündel Ruthen
zeigte, das sich nicht anders als stückweise zerbrechen
lasse, machte der eine Fabel *?

Aber wenn eben derselbe Vater seinen uneinigen
Söhnen erzählt hätte, wie glücklich drey Stiere, so
lange sie einig waren, den Löwen von sich abhiel-
ten, und wie bald sie des Löwen Raub wurden, als
Zwietracht unter sie kam, und jeder sich seine eigene
Weide suchte **: alsdenn hätte doch der Vater sei-
nen Söhnen ihr Bestes in einer Fabel gezeigt? Die
Sache ist klar.

Folglich ist es eben so klar, daß die Fabel nicht
bloß eine allegorische Handlung, sondern die Er-
zehlung
einer solchen Handlung seyn kann. Und
dieses ist das erste, was ich wider die Erklärung des
de la Motte zu erinnern habe.

Aber was will er mit seiner Allegorie? -- Ein
so fremdes Wort, womit nur wenige einen bestimm-
ten Begriff verbinden, sollte überhaupt aus einer

guten
* Fabul. Aesop. 171.
** Fab. Aesop. 297.
H 4

Jener Vater, der ſeinen uneinigen Söhnen die
Vortheile der Eintracht an einem Bündel Ruthen
zeigte, das ſich nicht anders als ſtückweiſe zerbrechen
laſſe, machte der eine Fabel *?

Aber wenn eben derſelbe Vater ſeinen uneinigen
Söhnen erzählt hätte, wie glücklich drey Stiere, ſo
lange ſie einig waren, den Löwen von ſich abhiel-
ten, und wie bald ſie des Löwen Raub wurden, als
Zwietracht unter ſie kam, und jeder ſich ſeine eigene
Weide ſuchte **: alsdenn hätte doch der Vater ſei-
nen Söhnen ihr Beſtes in einer Fabel gezeigt? Die
Sache iſt klar.

Folglich iſt es eben ſo klar, daß die Fabel nicht
bloß eine allegoriſche Handlung, ſondern die Er-
zehlung
einer ſolchen Handlung ſeyn kann. Und
dieſes iſt das erſte, was ich wider die Erklärung des
de la Motte zu erinnern habe.

Aber was will er mit ſeiner Allegorie? — Ein
ſo fremdes Wort, womit nur wenige einen beſtimm-
ten Begriff verbinden, ſollte überhaupt aus einer

guten
* Fabul. Aeſop. 171.
** Fab. Aeſop. 297.
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[119/0139] Jener Vater, der ſeinen uneinigen Söhnen die Vortheile der Eintracht an einem Bündel Ruthen zeigte, das ſich nicht anders als ſtückweiſe zerbrechen laſſe, machte der eine Fabel *? Aber wenn eben derſelbe Vater ſeinen uneinigen Söhnen erzählt hätte, wie glücklich drey Stiere, ſo lange ſie einig waren, den Löwen von ſich abhiel- ten, und wie bald ſie des Löwen Raub wurden, als Zwietracht unter ſie kam, und jeder ſich ſeine eigene Weide ſuchte **: alsdenn hätte doch der Vater ſei- nen Söhnen ihr Beſtes in einer Fabel gezeigt? Die Sache iſt klar. Folglich iſt es eben ſo klar, daß die Fabel nicht bloß eine allegoriſche Handlung, ſondern die Er- zehlung einer ſolchen Handlung ſeyn kann. Und dieſes iſt das erſte, was ich wider die Erklärung des de la Motte zu erinnern habe. Aber was will er mit ſeiner Allegorie? — Ein ſo fremdes Wort, womit nur wenige einen beſtimm- ten Begriff verbinden, ſollte überhaupt aus einer guten * Fabul. Aeſop. 171. ** Fab. Aeſop. 297. H 4

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/139>, abgerufen am 02.05.2024.