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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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"lange! Hinter ihm ertönte die Jagd; seine dürren
"Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze; da ver-
"strickt ihn sein stolzes Geweih; er wird erreicht*. --

Auch hier sehe ich keine Unternehmung, keine Ab-
sicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und
der fliehende Hirsch hat die Absicht sich zu retten;
aber beyde Umstände gehören eigentlich nicht zur
Fabel, weil man sie, ohne Nachtheil derselben,
weglassen und verändern kann. Und dennoch fehlt
es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung
liegt in dem falsch befundenen Urtheile des Hir-
sches. Der Hirsch urtheilet falsch; und lernet gleich
darauf aus der Erfahrung, daß er falsch geurtheilet
habe. Hier ist also eine Folge von Veränderungen,
die einen einzigen anschauenden Begriff in mir er-
wecken. -- Und das ist meine obige Erklärung der
Handlung, von der ich glaube, daß sie auf alle gute
Fabeln passen wird.

Giebt es aber doch wohl Kunstrichter, welche
einen noch engern, und zwar so materiellen Begriff
mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie nir-

gends
* Fab. Aesop. 181.
„lange! Hinter ihm ertönte die Jagd; ſeine dürren
„Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze; da ver-
„ſtrickt ihn ſein ſtolzes Geweih; er wird erreicht*. —

Auch hier ſehe ich keine Unternehmung, keine Ab-
ſicht. Die Jagd iſt zwar eine Unternehmung, und
der fliehende Hirſch hat die Abſicht ſich zu retten;
aber beyde Umſtände gehören eigentlich nicht zur
Fabel, weil man ſie, ohne Nachtheil derſelben,
weglaſſen und verändern kann. Und dennoch fehlt
es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung
liegt in dem falſch befundenen Urtheile des Hir-
ſches. Der Hirſch urtheilet falſch; und lernet gleich
darauf aus der Erfahrung, daß er falſch geurtheilet
habe. Hier iſt alſo eine Folge von Veränderungen,
die einen einzigen anſchauenden Begriff in mir er-
wecken. — Und das iſt meine obige Erklärung der
Handlung, von der ich glaube, daß ſie auf alle gute
Fabeln paſſen wird.

Giebt es aber doch wohl Kunſtrichter, welche
einen noch engern, und zwar ſo materiellen Begriff
mit dem Worte Handlung verbinden, daß ſie nir-

gends
* Fab. Aeſop. 181.
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[146/0166] „lange! Hinter ihm ertönte die Jagd; ſeine dürren „Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze; da ver- „ſtrickt ihn ſein ſtolzes Geweih; er wird erreicht *. — Auch hier ſehe ich keine Unternehmung, keine Ab- ſicht. Die Jagd iſt zwar eine Unternehmung, und der fliehende Hirſch hat die Abſicht ſich zu retten; aber beyde Umſtände gehören eigentlich nicht zur Fabel, weil man ſie, ohne Nachtheil derſelben, weglaſſen und verändern kann. Und dennoch fehlt es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung liegt in dem falſch befundenen Urtheile des Hir- ſches. Der Hirſch urtheilet falſch; und lernet gleich darauf aus der Erfahrung, daß er falſch geurtheilet habe. Hier iſt alſo eine Folge von Veränderungen, die einen einzigen anſchauenden Begriff in mir er- wecken. — Und das iſt meine obige Erklärung der Handlung, von der ich glaube, daß ſie auf alle gute Fabeln paſſen wird. Giebt es aber doch wohl Kunſtrichter, welche einen noch engern, und zwar ſo materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß ſie nir- gends * Fab. Aeſop. 181.

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/166>, abgerufen am 28.03.2024.