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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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glauben macht, und diese innere Wahrscheinlichkeit
sich eben so wohl in einem erdichteten Falle finden
kann: was kann die Wirklichkeit des erstern für eine
grössere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als
die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da
das historische Wahre nicht immer auch wahrschem-
lich ist; da Aristoteles selbst die Sentenz des Aga-
tho
billiget:

Takh an tis eikos auto tout einai legoi:
Brotoisi polla tugkhanein ou'k eikota:

da er hier selbst sagt, daß das Vergangene nur
gemeiniglich (epi to polu) dem Zukünftigen ähn-
lich sey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier-
inn von der Natur abzugehen, und alles, was er
für wahr ausgiebt, auch wahrscheinlich zu machen:
so sollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den
Fabeln, überhaupt zu reden, in Ansehung der Ueber-
zeugungskraft, der Vorzug vor den historischen
Exempel gebühre etc.

Und nunmehr glaube ich meine Meinung von
dem Wesen der Fabel genugsam verbreitet zu haben.
Ich fasse daher alles zusammen und sage: Wenn

wir

glauben macht, und dieſe innere Wahrſcheinlichkeit
ſich eben ſo wohl in einem erdichteten Falle finden
kann: was kann die Wirklichkeit des erſtern für eine
gröſſere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als
die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da
das hiſtoriſche Wahre nicht immer auch wahrſchem-
lich iſt; da Ariſtoteles ſelbſt die Sentenz des Aga-
tho
billiget:

Ταχ̛ ἀν τις ἐικος αυτο τουτ̛ ἐιναι λεγοι:
Βροτοισι πολλα τυγχανειν ου᾽κ ἐικοτα:

da er hier ſelbſt ſagt, daß das Vergangene nur
gemeiniglich (ἑπι το πολυ) dem Zukünftigen ähn-
lich ſey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier-
inn von der Natur abzugehen, und alles, was er
für wahr ausgiebt, auch wahrſcheinlich zu machen:
ſo ſollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den
Fabeln, überhaupt zu reden, in Anſehung der Ueber-
zeugungskraft, der Vorzug vor den hiſtoriſchen
Exempel gebühre ꝛc.

Und nunmehr glaube ich meine Meinung von
dem Weſen der Fabel genugſam verbreitet zu haben.
Ich faſſe daher alles zuſammen und ſage: Wenn

wir
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[171/0191] glauben macht, und dieſe innere Wahrſcheinlichkeit ſich eben ſo wohl in einem erdichteten Falle finden kann: was kann die Wirklichkeit des erſtern für eine gröſſere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da das hiſtoriſche Wahre nicht immer auch wahrſchem- lich iſt; da Ariſtoteles ſelbſt die Sentenz des Aga- tho billiget: Ταχ̛ ἀν τις ἐικος αυτο τουτ̛ ἐιναι λεγοι: Βροτοισι πολλα τυγχανειν ου᾽κ ἐικοτα: da er hier ſelbſt ſagt, daß das Vergangene nur gemeiniglich (ἑπι το πολυ) dem Zukünftigen ähn- lich ſey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier- inn von der Natur abzugehen, und alles, was er für wahr ausgiebt, auch wahrſcheinlich zu machen: ſo ſollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den Fabeln, überhaupt zu reden, in Anſehung der Ueber- zeugungskraft, der Vorzug vor den hiſtoriſchen Exempel gebühre ꝛc. Und nunmehr glaube ich meine Meinung von dem Weſen der Fabel genugſam verbreitet zu haben. Ich faſſe daher alles zuſammen und ſage: Wenn wir

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/191>, abgerufen am 26.04.2024.