Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

starke Sinn, und Eduard's Einfluß hat diese
Charakter-Richtung in Dir noch mehr ausge-
bildet. Vom Glück verzogen, von uns Allen
mit der nachgiebigsten Liebe behandelt, hast Du
es nie gelernt, Dich in den Willen eines Andern
zu fügen; was man an Dir als Eigensinn hätte
tadeln sollen, das haben Vater und Bruder als
Charakterfestigkeit gelobt, und ich begreife, daß
Dir Joseph zuwider ist, weil er allein Dir ent-
schieden und mit Nachdruck entgegentritt. Und
doch weiß ich, daß er Dich mehr liebt, als Viele,
die Dir schmeicheln." Bei den Worten reichte
die milde Frau der Tochter die Hand. Diese
nahm sie, drückte einen Kuß darauf, und saß
eine Weile schweigend bei ihrer Arbeit.

Man sah es ihrem lieblichen Gesichte an,
daß irgend ein Entschluß, ein Gedanke sie be-
schäftige -- auch legte sie plötzlich die Arbeit
bei Seite, sah ganz ruhig die Mutter an und
sagte mit einer Stimme, der man nicht das

ſtarke Sinn, und Eduard's Einfluß hat dieſe
Charakter-Richtung in Dir noch mehr ausge-
bildet. Vom Glück verzogen, von uns Allen
mit der nachgiebigſten Liebe behandelt, haſt Du
es nie gelernt, Dich in den Willen eines Andern
zu fügen; was man an Dir als Eigenſinn hätte
tadeln ſollen, das haben Vater und Bruder als
Charakterfeſtigkeit gelobt, und ich begreife, daß
Dir Joſeph zuwider iſt, weil er allein Dir ent-
ſchieden und mit Nachdruck entgegentritt. Und
doch weiß ich, daß er Dich mehr liebt, als Viele,
die Dir ſchmeicheln.“ Bei den Worten reichte
die milde Frau der Tochter die Hand. Dieſe
nahm ſie, drückte einen Kuß darauf, und ſaß
eine Weile ſchweigend bei ihrer Arbeit.

Man ſah es ihrem lieblichen Geſichte an,
daß irgend ein Entſchluß, ein Gedanke ſie be-
ſchäftige — auch legte ſie plötzlich die Arbeit
bei Seite, ſah ganz ruhig die Mutter an und
ſagte mit einer Stimme, der man nicht das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0040" n="28"/>
&#x017F;tarke Sinn, und Eduard's Einfluß hat die&#x017F;e<lb/>
Charakter-Richtung in Dir noch mehr ausge-<lb/>
bildet. Vom Glück verzogen, von uns Allen<lb/>
mit der nachgiebig&#x017F;ten Liebe behandelt, ha&#x017F;t Du<lb/>
es nie gelernt, Dich in den Willen eines Andern<lb/>
zu fügen; was man an Dir als Eigen&#x017F;inn hätte<lb/>
tadeln &#x017F;ollen, das haben Vater und Bruder als<lb/>
Charakterfe&#x017F;tigkeit gelobt, und ich begreife, daß<lb/>
Dir Jo&#x017F;eph zuwider i&#x017F;t, weil er allein Dir ent-<lb/>
&#x017F;chieden und mit Nachdruck entgegentritt. Und<lb/>
doch weiß ich, daß er Dich mehr liebt, als Viele,<lb/>
die Dir &#x017F;chmeicheln.&#x201C; Bei den Worten reichte<lb/>
die milde Frau der Tochter die Hand. Die&#x017F;e<lb/>
nahm &#x017F;ie, drückte einen Kuß darauf, und &#x017F;<lb/>
eine Weile &#x017F;chweigend bei ihrer Arbeit.</p><lb/>
        <p>Man &#x017F;ah es ihrem lieblichen Ge&#x017F;ichte an,<lb/>
daß irgend ein Ent&#x017F;chluß, ein Gedanke &#x017F;ie be-<lb/>
&#x017F;chäftige &#x2014; auch legte &#x017F;ie plötzlich die Arbeit<lb/>
bei Seite, &#x017F;ah ganz ruhig die Mutter an und<lb/>
&#x017F;agte mit einer Stimme, der man nicht das<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0040] ſtarke Sinn, und Eduard's Einfluß hat dieſe Charakter-Richtung in Dir noch mehr ausge- bildet. Vom Glück verzogen, von uns Allen mit der nachgiebigſten Liebe behandelt, haſt Du es nie gelernt, Dich in den Willen eines Andern zu fügen; was man an Dir als Eigenſinn hätte tadeln ſollen, das haben Vater und Bruder als Charakterfeſtigkeit gelobt, und ich begreife, daß Dir Joſeph zuwider iſt, weil er allein Dir ent- ſchieden und mit Nachdruck entgegentritt. Und doch weiß ich, daß er Dich mehr liebt, als Viele, die Dir ſchmeicheln.“ Bei den Worten reichte die milde Frau der Tochter die Hand. Dieſe nahm ſie, drückte einen Kuß darauf, und ſaß eine Weile ſchweigend bei ihrer Arbeit. Man ſah es ihrem lieblichen Geſichte an, daß irgend ein Entſchluß, ein Gedanke ſie be- ſchäftige — auch legte ſie plötzlich die Arbeit bei Seite, ſah ganz ruhig die Mutter an und ſagte mit einer Stimme, der man nicht das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/40
Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/40>, abgerufen am 13.10.2024.