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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Verschiedene Zeichen deuten auf Sturm. Man wird sich erinnern,
daß vor einigen Monaten Dr. Guido Weiß in Berlin zu einer Ge-
fängnißstrafe verurtheilt wurde, weil er die Existenz des Dreikaiser-
bündnisses in Frage gestellt hatte. Nun, vor wenigen Wochen wurden
die Unterhandlungen zwischen der deutschen nud der österreichischen
Regierung behufs Erneuerung des deutsch-österreichischen Handels-
vertrages
abgebrochen, und vor wenigen Tagen gab der österreichische
Handelsminister Chlumetzky öffentlich im Abgeordnetenhause Erklä-
rungen ab, welche in der Anklage gipfelten, daß die deutsche Regierung
durch ihr brüskes Vorgehen das Scheitern der Verhandlungen herbei-
geführt habe. Diese schwerwiegende Anklage ist bisher nicht widerlegt
worden, und der Versuch einiger "liberalen" Zeitungen, die Schuld des
Scheiterns auf die österreichische Regierung und deren schutz-
zöllnerische Tendenzen
zu wälzen, kann angesichts der notorischen
schutzzöllnerischen Tendenzen des Fürsten Bismarck nur
mitleidiges Lächeln erregen. Jetzt predigt man schon offen den "Zollkrieg"
zwischen Deutschland und Oesterreich.

Unter solchen Verhältnissen noch an das Dreikaiserbündniß glauben,
heißt für das Jrrenhaus reif sein.

Kein Zweifel: die neuerlichen militärischen Erfolge Rußlands haben
die Besorgnisse Oesterreichs wieder erweckt, und weder der Unterredung
des deutschen Kaisers mit seinem österreichischen "Bruder", noch der
des deutschen Reichskanzlers mit seinem österreichischen Kollegen ist es
gelungen, die österreichische Regierung davon zu überzeugen, daß es in
ihrem Jnteresse wäre, die Orientpolitik der Russen zu unterstützen und
allen Absichten derselben auf die Türkei Vorschub zu leisten. Oester-
reich hat aufgehört, der von Bismarck vorgeschriebenen
"gebundenen Marschroute" widerstandslos zu folgen
--
das ist eine Thatsache, die heute feststeht.

Nicht minder bedeutungsvoll ist die geradezu drohende Haltung,
welche England in jüngster Zeit angenommen hat. Bei Gelegenheit
des letzten Lordmayor's-Festes in London (am 9. November) beschul-
digte der Lord-Oberrichter Englands den deutschen Reichskanzler un-
verblümt des Zusammengehens mit Rußland, und sprach von
einem deutsch-russischen Bündniß zur Theilung der Tür-
kei,
welches Fürst Bismarck abgeschlossen habe. Etwas diplomatischer,
aber in ähnlichem Geist äußerte sich der Chef des englischen Ministeriums,
Disraeli ("Lord Beaconsfield"), der in nicht mißzuverstehenden Worten
für die Unabhängigkeit und Jntegrität der Türkei in die Schranken trat.

Daß der Standpunkt Frankreichs in der orientalischen Frage
wesentlich mit dem englischen übereinstimmt, ist so bekannt, daß wir uns
nähere Auseinandersetzungen ersparen können. Genug: die Parteien

Verſchiedene Zeichen deuten auf Sturm. Man wird ſich erinnern,
daß vor einigen Monaten Dr. Guido Weiß in Berlin zu einer Ge-
fängnißſtrafe verurtheilt wurde, weil er die Exiſtenz des Dreikaiſer-
bündniſſes in Frage geſtellt hatte. Nun, vor wenigen Wochen wurden
die Unterhandlungen zwiſchen der deutſchen nud der öſterreichiſchen
Regierung behufs Erneuerung des deutſch-öſterreichiſchen Handels-
vertrages
abgebrochen, und vor wenigen Tagen gab der öſterreichiſche
Handelsminiſter Chlumetzky öffentlich im Abgeordnetenhauſe Erklä-
rungen ab, welche in der Anklage gipfelten, daß die deutſche Regierung
durch ihr brüskes Vorgehen das Scheitern der Verhandlungen herbei-
geführt habe. Dieſe ſchwerwiegende Anklage iſt bisher nicht widerlegt
worden, und der Verſuch einiger „liberalen‟ Zeitungen, die Schuld des
Scheiterns auf die öſterreichiſche Regierung und deren ſchutz-
zöllneriſche Tendenzen
zu wälzen, kann angeſichts der notoriſchen
ſchutzzöllneriſchen Tendenzen des Fürſten Bismarck nur
mitleidiges Lächeln erregen. Jetzt predigt man ſchon offen den „Zollkrieg‟
zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich.

Unter ſolchen Verhältniſſen noch an das Dreikaiſerbündniß glauben,
heißt für das Jrrenhaus reif ſein.

Kein Zweifel: die neuerlichen militäriſchen Erfolge Rußlands haben
die Beſorgniſſe Oeſterreichs wieder erweckt, und weder der Unterredung
des deutſchen Kaiſers mit ſeinem öſterreichiſchen „Bruder‟, noch der
des deutſchen Reichskanzlers mit ſeinem öſterreichiſchen Kollegen iſt es
gelungen, die öſterreichiſche Regierung davon zu überzeugen, daß es in
ihrem Jntereſſe wäre, die Orientpolitik der Ruſſen zu unterſtützen und
allen Abſichten derſelben auf die Türkei Vorſchub zu leiſten. Oeſter-
reich hat aufgehört, der von Bismarck vorgeſchriebenen
„gebundenen Marſchroute‟ widerſtandslos zu folgen

das iſt eine Thatſache, die heute feſtſteht.

Nicht minder bedeutungsvoll iſt die geradezu drohende Haltung,
welche England in jüngſter Zeit angenommen hat. Bei Gelegenheit
des letzten Lordmayor’s-Feſtes in London (am 9. November) beſchul-
digte der Lord-Oberrichter Englands den deutſchen Reichskanzler un-
verblümt des Zuſammengehens mit Rußland, und ſprach von
einem deutſch-ruſſiſchen Bündniß zur Theilung der Tür-
kei,
welches Fürſt Bismarck abgeſchloſſen habe. Etwas diplomatiſcher,
aber in ähnlichem Geiſt äußerte ſich der Chef des engliſchen Miniſteriums,
Disraeli („Lord Beaconsfield‟), der in nicht mißzuverſtehenden Worten
für die Unabhängigkeit und Jntegrität der Türkei in die Schranken trat.

Daß der Standpunkt Frankreichs in der orientaliſchen Frage
weſentlich mit dem engliſchen übereinſtimmt, iſt ſo bekannt, daß wir uns
nähere Auseinanderſetzungen erſparen können. Genug: die Parteien

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[22/0026] Verſchiedene Zeichen deuten auf Sturm. Man wird ſich erinnern, daß vor einigen Monaten Dr. Guido Weiß in Berlin zu einer Ge- fängnißſtrafe verurtheilt wurde, weil er die Exiſtenz des Dreikaiſer- bündniſſes in Frage geſtellt hatte. Nun, vor wenigen Wochen wurden die Unterhandlungen zwiſchen der deutſchen nud der öſterreichiſchen Regierung behufs Erneuerung des deutſch-öſterreichiſchen Handels- vertrages abgebrochen, und vor wenigen Tagen gab der öſterreichiſche Handelsminiſter Chlumetzky öffentlich im Abgeordnetenhauſe Erklä- rungen ab, welche in der Anklage gipfelten, daß die deutſche Regierung durch ihr brüskes Vorgehen das Scheitern der Verhandlungen herbei- geführt habe. Dieſe ſchwerwiegende Anklage iſt bisher nicht widerlegt worden, und der Verſuch einiger „liberalen‟ Zeitungen, die Schuld des Scheiterns auf die öſterreichiſche Regierung und deren ſchutz- zöllneriſche Tendenzen zu wälzen, kann angeſichts der notoriſchen ſchutzzöllneriſchen Tendenzen des Fürſten Bismarck nur mitleidiges Lächeln erregen. Jetzt predigt man ſchon offen den „Zollkrieg‟ zwiſchen Deutſchland und Oeſterreich. Unter ſolchen Verhältniſſen noch an das Dreikaiſerbündniß glauben, heißt für das Jrrenhaus reif ſein. Kein Zweifel: die neuerlichen militäriſchen Erfolge Rußlands haben die Beſorgniſſe Oeſterreichs wieder erweckt, und weder der Unterredung des deutſchen Kaiſers mit ſeinem öſterreichiſchen „Bruder‟, noch der des deutſchen Reichskanzlers mit ſeinem öſterreichiſchen Kollegen iſt es gelungen, die öſterreichiſche Regierung davon zu überzeugen, daß es in ihrem Jntereſſe wäre, die Orientpolitik der Ruſſen zu unterſtützen und allen Abſichten derſelben auf die Türkei Vorſchub zu leiſten. Oeſter- reich hat aufgehört, der von Bismarck vorgeſchriebenen „gebundenen Marſchroute‟ widerſtandslos zu folgen — das iſt eine Thatſache, die heute feſtſteht. Nicht minder bedeutungsvoll iſt die geradezu drohende Haltung, welche England in jüngſter Zeit angenommen hat. Bei Gelegenheit des letzten Lordmayor’s-Feſtes in London (am 9. November) beſchul- digte der Lord-Oberrichter Englands den deutſchen Reichskanzler un- verblümt des Zuſammengehens mit Rußland, und ſprach von einem deutſch-ruſſiſchen Bündniß zur Theilung der Tür- kei, welches Fürſt Bismarck abgeſchloſſen habe. Etwas diplomatiſcher, aber in ähnlichem Geiſt äußerte ſich der Chef des engliſchen Miniſteriums, Disraeli („Lord Beaconsfield‟), der in nicht mißzuverſtehenden Worten für die Unabhängigkeit und Jntegrität der Türkei in die Schranken trat. Daß der Standpunkt Frankreichs in der orientaliſchen Frage weſentlich mit dem engliſchen übereinſtimmt, iſt ſo bekannt, daß wir uns nähere Auseinanderſetzungen erſparen können. Genug: die Parteien

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/26>, abgerufen am 28.03.2024.