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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856.

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ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letz¬
ten vier Jahre noch einmal durchlebt und war noch
einmal aus einem blöden, träumerischen Knaben zum
Manne geworden. Als sein Blick wieder auf den
Thurm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob sich
die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine
unsichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er schalt sich
über sein kindisches Gaffen. Er mußte sobald als mög¬
lich die Dinge in der Nähe seh'n, um sich ein Urtheil
zu bilden, was zu thun sei. Die Liebe zur Heimath
war noch so stark in ihm als je, aber es war nicht
mehr die des Knaben, dem die Heimath eine Mutter
ist, die ihn hätschelnd in die Arme nimmt; es war die
Liebe des Mannes. Die Heimath war ihm ein Weib,
ein Kind, für das zu schaffen es ihn trieb.


Wer in das Haus hineinseh'n konnte mit den grü¬
nen Fensterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der
merkte wohl, daß die Gedanken seiner Bewohner nicht
im gewöhnlichen alltäglichen Geleise gingen. Man
konnte es sehen an der Art, wie die Leute aufstanden
und wie sie sich setzten, wie sie die Thüren öffneten
und schlossen, wie sie Dinge anfaßten und wieder weg¬
stellten, mit denen sie weiter nichts thaten, als sie neh¬
men und wieder hinstellen, und offenbar auch weiter

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ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letz¬
ten vier Jahre noch einmal durchlebt und war noch
einmal aus einem blöden, träumeriſchen Knaben zum
Manne geworden. Als ſein Blick wieder auf den
Thurm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob ſich
die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine
unſichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er ſchalt ſich
über ſein kindiſches Gaffen. Er mußte ſobald als mög¬
lich die Dinge in der Nähe ſeh'n, um ſich ein Urtheil
zu bilden, was zu thun ſei. Die Liebe zur Heimath
war noch ſo ſtark in ihm als je, aber es war nicht
mehr die des Knaben, dem die Heimath eine Mutter
iſt, die ihn hätſchelnd in die Arme nimmt; es war die
Liebe des Mannes. Die Heimath war ihm ein Weib,
ein Kind, für das zu ſchaffen es ihn trieb.


Wer in das Haus hineinſeh'n konnte mit den grü¬
nen Fenſterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der
merkte wohl, daß die Gedanken ſeiner Bewohner nicht
im gewöhnlichen alltäglichen Geleiſe gingen. Man
konnte es ſehen an der Art, wie die Leute aufſtanden
und wie ſie ſich ſetzten, wie ſie die Thüren öffneten
und ſchloſſen, wie ſie Dinge anfaßten und wieder weg¬
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men und wieder hinſtellen, und offenbar auch weiter

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[35/0044] ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letz¬ ten vier Jahre noch einmal durchlebt und war noch einmal aus einem blöden, träumeriſchen Knaben zum Manne geworden. Als ſein Blick wieder auf den Thurm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob ſich die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine unſichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er ſchalt ſich über ſein kindiſches Gaffen. Er mußte ſobald als mög¬ lich die Dinge in der Nähe ſeh'n, um ſich ein Urtheil zu bilden, was zu thun ſei. Die Liebe zur Heimath war noch ſo ſtark in ihm als je, aber es war nicht mehr die des Knaben, dem die Heimath eine Mutter iſt, die ihn hätſchelnd in die Arme nimmt; es war die Liebe des Mannes. Die Heimath war ihm ein Weib, ein Kind, für das zu ſchaffen es ihn trieb. Wer in das Haus hineinſeh'n konnte mit den grü¬ nen Fenſterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der merkte wohl, daß die Gedanken ſeiner Bewohner nicht im gewöhnlichen alltäglichen Geleiſe gingen. Man konnte es ſehen an der Art, wie die Leute aufſtanden und wie ſie ſich ſetzten, wie ſie die Thüren öffneten und ſchloſſen, wie ſie Dinge anfaßten und wieder weg¬ ſtellten, mit denen ſie weiter nichts thaten, als ſie neh¬ men und wieder hinſtellen, und offenbar auch weiter 3 *

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Zitationshilfe: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/44>, abgerufen am 28.03.2024.