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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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schwert, verwirren die herrschenden Parteien das
Urtheil selbst und erzeugen neben der Unkenntniß jene
leichtsinnige Verachtung des Unbekannten oder Halb¬
begriffenen, die in der neuesten Zeit namentlich so
verderblich um sich gegriffen. Endlich behauptet der
Augenblick sein Recht, das Neue, die Mode; der
Strom der Literatur erscheint in seinen Windungen
jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die
weite Bücherwelt drängt sich dem gewöhnlichen Leser
in einen kleinen Horizont zusammen. Allen gilt zwar
alles, doch immer nur das Eine für die Einen und
vieles nur für den Augenblick. So bietet unsre Lite¬
ratur das bunteste Chaos von Geistern, Meinungen
und Sprachen dar. Sie steigt von den Sonnengipfeln
des Genies zum tiefsten Schlamm der Gemeinheit
hinunter. Bald ist sie weise bis zum mystischen Tief¬
sinn, bald stumpfsinnig, oder g[e][ - 3 Zeichen fehlen]nhaft thöricht. Bald
ist sie fein bis zur Unverständlichkeit, bald roh wie
Felsen. Ein Gleichmaß der Ansichten, der Gesin¬
nung, des Verstandes und der Sprache ist nirgends
wahrzunehmen. Jede Ansicht, jede Natur, jedes Ta¬
lent macht sich geltend, unbekümmert um den Rich¬
ter, denn es ist kein Gesetz vorhanden und die Geister
leben in wilder Anarchie. Aus allen Instrumenten
und Tönen wird das wunderbare Concert der Lite¬
ratur unaufhörlich fortgespielt, und es ist nicht mög¬
lich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in
dem Lärmen steht. Schwingt man sich jedoch auf den
höhern Standpunkt über der Zeit, so hört man, wie

ſchwert, verwirren die herrſchenden Parteien das
Urtheil ſelbſt und erzeugen neben der Unkenntniß jene
leichtſinnige Verachtung des Unbekannten oder Halb¬
begriffenen, die in der neueſten Zeit namentlich ſo
verderblich um ſich gegriffen. Endlich behauptet der
Augenblick ſein Recht, das Neue, die Mode; der
Strom der Literatur erſcheint in ſeinen Windungen
jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die
weite Buͤcherwelt draͤngt ſich dem gewoͤhnlichen Leſer
in einen kleinen Horizont zuſammen. Allen gilt zwar
alles, doch immer nur das Eine fuͤr die Einen und
vieles nur fuͤr den Augenblick. So bietet unſre Lite¬
ratur das bunteſte Chaos von Geiſtern, Meinungen
und Sprachen dar. Sie ſteigt von den Sonnengipfeln
des Genies zum tiefſten Schlamm der Gemeinheit
hinunter. Bald iſt ſie weiſe bis zum myſtiſchen Tief¬
ſinn, bald ſtumpfſinnig, oder g[e][ – 3 Zeichen fehlen]nhaft thoͤricht. Bald
iſt ſie fein bis zur Unverſtaͤndlichkeit, bald roh wie
Felſen. Ein Gleichmaß der Anſichten, der Geſin¬
nung, des Verſtandes und der Sprache iſt nirgends
wahrzunehmen. Jede Anſicht, jede Natur, jedes Ta¬
lent macht ſich geltend, unbekuͤmmert um den Rich¬
ter, denn es iſt kein Geſetz vorhanden und die Geiſter
leben in wilder Anarchie. Aus allen Inſtrumenten
und Toͤnen wird das wunderbare Concert der Lite¬
ratur unaufhoͤrlich fortgeſpielt, und es iſt nicht moͤg¬
lich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in
dem Laͤrmen ſteht. Schwingt man ſich jedoch auf den
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[16/0026] ſchwert, verwirren die herrſchenden Parteien das Urtheil ſelbſt und erzeugen neben der Unkenntniß jene leichtſinnige Verachtung des Unbekannten oder Halb¬ begriffenen, die in der neueſten Zeit namentlich ſo verderblich um ſich gegriffen. Endlich behauptet der Augenblick ſein Recht, das Neue, die Mode; der Strom der Literatur erſcheint in ſeinen Windungen jeden Augenblick nur als ein beengter See, und die weite Buͤcherwelt draͤngt ſich dem gewoͤhnlichen Leſer in einen kleinen Horizont zuſammen. Allen gilt zwar alles, doch immer nur das Eine fuͤr die Einen und vieles nur fuͤr den Augenblick. So bietet unſre Lite¬ ratur das bunteſte Chaos von Geiſtern, Meinungen und Sprachen dar. Sie ſteigt von den Sonnengipfeln des Genies zum tiefſten Schlamm der Gemeinheit hinunter. Bald iſt ſie weiſe bis zum myſtiſchen Tief¬ ſinn, bald ſtumpfſinnig, oder ge___nhaft thoͤricht. Bald iſt ſie fein bis zur Unverſtaͤndlichkeit, bald roh wie Felſen. Ein Gleichmaß der Anſichten, der Geſin¬ nung, des Verſtandes und der Sprache iſt nirgends wahrzunehmen. Jede Anſicht, jede Natur, jedes Ta¬ lent macht ſich geltend, unbekuͤmmert um den Rich¬ ter, denn es iſt kein Geſetz vorhanden und die Geiſter leben in wilder Anarchie. Aus allen Inſtrumenten und Toͤnen wird das wunderbare Concert der Lite¬ ratur unaufhoͤrlich fortgeſpielt, und es iſt nicht moͤg¬ lich Harmonie darin zu finden, wenn man mitten in dem Laͤrmen ſteht. Schwingt man ſich jedoch auf den hoͤhern Standpunkt uͤber der Zeit, ſo hoͤrt man, wie

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/26>, abgerufen am 28.03.2024.