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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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sich nur als Schmarozzerpflanzen an die verschiednen
Zweige der Literatur. Dennoch läßt das tiefe Be¬
dürfniß, in jener unermeßlichen Mannigfaltigkeit eine
sichre innere Harmonie zu erkennen, sich niemals ab¬
weisen, und Einzelne haben einen Höhenpunkt zu
gewinnen gesucht, von wo aus sie die tiefste Aus¬
sicht genossen, und wo vielleicht nur Einzelne sich
halten konnten, Lessing, Herder, Schlegel. Ich kann
hier der Sammler nicht gedenken, die gleich den äl¬
tern Botanikern nur zahllose Namen aneinander reih¬
ten und nur die äußre quantitative, nicht die innere
qualitative Größe ihres Gegenstandes im Auge hatten.
Manche haben die Oberfläche der Literatur ziemlich
umfassend überblickt, aber in den Inhalt, in die in¬
nere Tiefe, aus welcher eine so reiche Welt an die
Oberfläche herausblühen konnte, haben nur wenige
hineingeblickt. Jedes Auge sieht die Welt rund, es
kommt aber darauf an, wie tief es hineinsieht.

Wie schwer immerhin ein umfassender Überblick
und eine unparteiische Würdigung seyn mag, sie ist
doch das Einzige, was theils vor einseitiger Verir¬
rung bewahren, theils den vollendeten Genuß eines
so reichen Kunstwerkes, als die Literatur ist, gewäh¬
ren kann. Die Vergleichung gibt Aufschlüsse, zu de¬
nen die einseitige Verfolgung eines literarischen Ge¬
genstandes nie gelangt. Eine Wissenschaft, eine Kunst,
eine That erklärt die andre; die Menschen, das Le¬
ben erklären sich am besten im Umfang aller ihrer
Erscheinungen. Ein umfassender Überblick und die Un¬

ſich nur als Schmarozzerpflanzen an die verſchiednen
Zweige der Literatur. Dennoch laͤßt das tiefe Be¬
duͤrfniß, in jener unermeßlichen Mannigfaltigkeit eine
ſichre innere Harmonie zu erkennen, ſich niemals ab¬
weiſen, und Einzelne haben einen Hoͤhenpunkt zu
gewinnen geſucht, von wo aus ſie die tiefſte Aus¬
ſicht genoſſen, und wo vielleicht nur Einzelne ſich
halten konnten, Leſſing, Herder, Schlegel. Ich kann
hier der Sammler nicht gedenken, die gleich den aͤl¬
tern Botanikern nur zahlloſe Namen aneinander reih¬
ten und nur die aͤußre quantitative, nicht die innere
qualitative Groͤße ihres Gegenſtandes im Auge hatten.
Manche haben die Oberflaͤche der Literatur ziemlich
umfaſſend uͤberblickt, aber in den Inhalt, in die in¬
nere Tiefe, aus welcher eine ſo reiche Welt an die
Oberflaͤche herausbluͤhen konnte, haben nur wenige
hineingeblickt. Jedes Auge ſieht die Welt rund, es
kommt aber darauf an, wie tief es hineinſieht.

Wie ſchwer immerhin ein umfaſſender Überblick
und eine unparteiiſche Wuͤrdigung ſeyn mag, ſie iſt
doch das Einzige, was theils vor einſeitiger Verir¬
rung bewahren, theils den vollendeten Genuß eines
ſo reichen Kunſtwerkes, als die Literatur iſt, gewaͤh¬
ren kann. Die Vergleichung gibt Aufſchluͤſſe, zu de¬
nen die einſeitige Verfolgung eines literariſchen Ge¬
genſtandes nie gelangt. Eine Wiſſenſchaft, eine Kunſt,
eine That erklaͤrt die andre; die Menſchen, das Le¬
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[18/0028] ſich nur als Schmarozzerpflanzen an die verſchiednen Zweige der Literatur. Dennoch laͤßt das tiefe Be¬ duͤrfniß, in jener unermeßlichen Mannigfaltigkeit eine ſichre innere Harmonie zu erkennen, ſich niemals ab¬ weiſen, und Einzelne haben einen Hoͤhenpunkt zu gewinnen geſucht, von wo aus ſie die tiefſte Aus¬ ſicht genoſſen, und wo vielleicht nur Einzelne ſich halten konnten, Leſſing, Herder, Schlegel. Ich kann hier der Sammler nicht gedenken, die gleich den aͤl¬ tern Botanikern nur zahlloſe Namen aneinander reih¬ ten und nur die aͤußre quantitative, nicht die innere qualitative Groͤße ihres Gegenſtandes im Auge hatten. Manche haben die Oberflaͤche der Literatur ziemlich umfaſſend uͤberblickt, aber in den Inhalt, in die in¬ nere Tiefe, aus welcher eine ſo reiche Welt an die Oberflaͤche herausbluͤhen konnte, haben nur wenige hineingeblickt. Jedes Auge ſieht die Welt rund, es kommt aber darauf an, wie tief es hineinſieht. Wie ſchwer immerhin ein umfaſſender Überblick und eine unparteiiſche Wuͤrdigung ſeyn mag, ſie iſt doch das Einzige, was theils vor einſeitiger Verir¬ rung bewahren, theils den vollendeten Genuß eines ſo reichen Kunſtwerkes, als die Literatur iſt, gewaͤh¬ ren kann. Die Vergleichung gibt Aufſchluͤſſe, zu de¬ nen die einſeitige Verfolgung eines literariſchen Ge¬ genſtandes nie gelangt. Eine Wiſſenſchaft, eine Kunſt, eine That erklaͤrt die andre; die Menſchen, das Le¬ ben erklaͤren ſich am beſten im Umfang aller ihrer Erſcheinungen. Ein umfaſſender Überblick und die Un¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/28>, abgerufen am 28.03.2024.