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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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macht nur die Mittel zum Zweck. Über den gelehr¬
ten Hülfsmitteln vergißt man die Resultate. Man
sieht kaum einen Theologen oder Juristen, nur theo¬
logische, juridische Philologen. Alle historischen Wis¬
senschaften werden durch die philologisch-critische Ge¬
lehrsamkeit ungeniesbar gemacht. Man frägt nicht
nach dem Inhalt, nur nach der Schale. Man un¬
tersucht die Richtigkeit, nicht die Wichtigkeit der Ci¬
tate. Man freut sich kindisch, wenn man diploma¬
tisch erwiesen hat, daß dieser oder jener Ausspruch
wirklich gethan worden ist, ohne sich darum zu be¬
kümmern, ob er auch innere Wahrheit hat und ob über¬
haupt etwas daran liegt. Man häuft mit unsägli¬
chem Fleiße Nachrichten, unter denen man mit eben
so vieler Mühe wieder das Wenige zusammensuchen
muß, was der Erinnerung werth ist. Man ver¬
schwendet ein jahrelanges Studium, um die richtige
Lesart eines alten Dichters ausfindig zu machen, der
oft besser gänzlich stillgeschwiegen hätte. Selbst die
neuere Poesie wird unter der Last der Gelehrsamkeit
erdrückt. Die Sprache des natürlichen Gefühls und
der lebendigen Anschauung wird nur zu oft verdrängt
durch gelehrte Reflexionen, Anspielungen und Citate.
Es gibt keinen Zweig der Literatur, auf welchen die
Stubengelehrsamkeit nicht einen nachtheiligen Ein¬
fluß übte.

In der eigentlichen Schulweisheit, namentlich in
den sogenannten Brodwissenschaften herrscht ein Me¬

macht nur die Mittel zum Zweck. Über den gelehr¬
ten Huͤlfsmitteln vergißt man die Reſultate. Man
ſieht kaum einen Theologen oder Juriſten, nur theo¬
logiſche, juridiſche Philologen. Alle hiſtoriſchen Wiſ¬
ſenſchaften werden durch die philologiſch-critiſche Ge¬
lehrſamkeit ungeniesbar gemacht. Man fraͤgt nicht
nach dem Inhalt, nur nach der Schale. Man un¬
terſucht die Richtigkeit, nicht die Wichtigkeit der Ci¬
tate. Man freut ſich kindiſch, wenn man diploma¬
tiſch erwieſen hat, daß dieſer oder jener Ausſpruch
wirklich gethan worden iſt, ohne ſich darum zu be¬
kuͤmmern, ob er auch innere Wahrheit hat und ob uͤber¬
haupt etwas daran liegt. Man haͤuft mit unſaͤgli¬
chem Fleiße Nachrichten, unter denen man mit eben
ſo vieler Muͤhe wieder das Wenige zuſammenſuchen
muß, was der Erinnerung werth iſt. Man ver¬
ſchwendet ein jahrelanges Studium, um die richtige
Leſart eines alten Dichters ausfindig zu machen, der
oft beſſer gaͤnzlich ſtillgeſchwiegen haͤtte. Selbſt die
neuere Poeſie wird unter der Laſt der Gelehrſamkeit
erdruͤckt. Die Sprache des natuͤrlichen Gefuͤhls und
der lebendigen Anſchauung wird nur zu oft verdraͤngt
durch gelehrte Reflexionen, Anſpielungen und Citate.
Es gibt keinen Zweig der Literatur, auf welchen die
Stubengelehrſamkeit nicht einen nachtheiligen Ein¬
fluß uͤbte.

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[38/0048] macht nur die Mittel zum Zweck. Über den gelehr¬ ten Huͤlfsmitteln vergißt man die Reſultate. Man ſieht kaum einen Theologen oder Juriſten, nur theo¬ logiſche, juridiſche Philologen. Alle hiſtoriſchen Wiſ¬ ſenſchaften werden durch die philologiſch-critiſche Ge¬ lehrſamkeit ungeniesbar gemacht. Man fraͤgt nicht nach dem Inhalt, nur nach der Schale. Man un¬ terſucht die Richtigkeit, nicht die Wichtigkeit der Ci¬ tate. Man freut ſich kindiſch, wenn man diploma¬ tiſch erwieſen hat, daß dieſer oder jener Ausſpruch wirklich gethan worden iſt, ohne ſich darum zu be¬ kuͤmmern, ob er auch innere Wahrheit hat und ob uͤber¬ haupt etwas daran liegt. Man haͤuft mit unſaͤgli¬ chem Fleiße Nachrichten, unter denen man mit eben ſo vieler Muͤhe wieder das Wenige zuſammenſuchen muß, was der Erinnerung werth iſt. Man ver¬ ſchwendet ein jahrelanges Studium, um die richtige Leſart eines alten Dichters ausfindig zu machen, der oft beſſer gaͤnzlich ſtillgeſchwiegen haͤtte. Selbſt die neuere Poeſie wird unter der Laſt der Gelehrſamkeit erdruͤckt. Die Sprache des natuͤrlichen Gefuͤhls und der lebendigen Anſchauung wird nur zu oft verdraͤngt durch gelehrte Reflexionen, Anſpielungen und Citate. Es gibt keinen Zweig der Literatur, auf welchen die Stubengelehrſamkeit nicht einen nachtheiligen Ein¬ fluß uͤbte. In der eigentlichen Schulweisheit, namentlich in den ſogenannten Brodwiſſenſchaften herrſcht ein Me¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/48>, abgerufen am 19.04.2024.