Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Fräulein Amantia hegte für den edlen Gast ihres
Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬
würdige Leutseligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬
klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich
zu einer Stunde, wo er sich nicht ungern stören ließ,
in seinem Empfangszimmer zu erscheinen und nach sei¬
nen Wünschen zu forschen. Er ermangelte dann nie,
hatte er nicht dringende Geschäfte, das gute Kind zu¬
rückzuhalten und sich nach den Interessen ihres Tages
zu erkundigen.

Heute kam sie eben aus der Wochenpredigt, weni¬
ger erbaut als in Zweifel versenkt, denn der Pfarrer
Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden
Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen
schauerlichen Text -- den Verrath des Judas Ischariot,
Matthäus am sechsundzwanzigsten! Er hatte dadurch
seine Zuhörer in große Aufregung versetzt, die sich ängst¬
lich nach dem Zielpunkte dieser Anspielung umsahen, und
sich, sagte Fräulein Amantia, fast wie seiner Zeit die
Jünger fragten: "Herr, wer ist es, der Dich verräth?"


Fräulein Amantia hegte für den edlen Gaſt ihres
Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬
würdige Leutſeligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬
klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich
zu einer Stunde, wo er ſich nicht ungern ſtören ließ,
in ſeinem Empfangszimmer zu erſcheinen und nach ſei¬
nen Wünſchen zu forſchen. Er ermangelte dann nie,
hatte er nicht dringende Geſchäfte, das gute Kind zu¬
rückzuhalten und ſich nach den Intereſſen ihres Tages
zu erkundigen.

Heute kam ſie eben aus der Wochenpredigt, weni¬
ger erbaut als in Zweifel verſenkt, denn der Pfarrer
Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden
Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen
ſchauerlichen Text — den Verrath des Judas Iſchariot,
Matthäus am ſechsundzwanzigſten! Er hatte dadurch
ſeine Zuhörer in große Aufregung verſetzt, die ſich ängſt¬
lich nach dem Zielpunkte dieſer Anſpielung umſahen, und
ſich, ſagte Fräulein Amantia, faſt wie ſeiner Zeit die
Jünger fragten: „Herr, wer iſt es, der Dich verräth?“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0321" n="311"/>
          <p>Fräulein Amantia hegte für den edlen Ga&#x017F;t ihres<lb/>
Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬<lb/>
würdige Leut&#x017F;eligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬<lb/>
klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich<lb/>
zu einer Stunde, wo er &#x017F;ich nicht ungern &#x017F;tören ließ,<lb/>
in &#x017F;einem Empfangszimmer zu er&#x017F;cheinen und nach &#x017F;ei¬<lb/>
nen Wün&#x017F;chen zu for&#x017F;chen. Er ermangelte dann nie,<lb/>
hatte er nicht dringende Ge&#x017F;chäfte, das gute Kind zu¬<lb/>
rückzuhalten und &#x017F;ich nach den Intere&#x017F;&#x017F;en ihres Tages<lb/>
zu erkundigen.</p><lb/>
          <p>Heute kam &#x017F;ie eben aus der Wochenpredigt, weni¬<lb/>
ger erbaut als in Zweifel ver&#x017F;enkt, denn der Pfarrer<lb/>
Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden<lb/>
Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen<lb/>
&#x017F;chauerlichen Text &#x2014; den Verrath des Judas I&#x017F;chariot,<lb/>
Matthäus am &#x017F;echsundzwanzig&#x017F;ten! Er hatte dadurch<lb/>
&#x017F;eine Zuhörer in große Aufregung ver&#x017F;etzt, die &#x017F;ich äng&#x017F;<lb/>
lich nach dem Zielpunkte die&#x017F;er An&#x017F;pielung um&#x017F;ahen, und<lb/>
&#x017F;ich, &#x017F;agte Fräulein Amantia, fa&#x017F;t wie &#x017F;einer Zeit die<lb/>
Jünger fragten: &#x201E;Herr, wer i&#x017F;t es, der Dich verräth?&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[311/0321] Fräulein Amantia hegte für den edlen Gaſt ihres Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬ würdige Leutſeligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬ klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich zu einer Stunde, wo er ſich nicht ungern ſtören ließ, in ſeinem Empfangszimmer zu erſcheinen und nach ſei¬ nen Wünſchen zu forſchen. Er ermangelte dann nie, hatte er nicht dringende Geſchäfte, das gute Kind zu¬ rückzuhalten und ſich nach den Intereſſen ihres Tages zu erkundigen. Heute kam ſie eben aus der Wochenpredigt, weni¬ ger erbaut als in Zweifel verſenkt, denn der Pfarrer Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen ſchauerlichen Text — den Verrath des Judas Iſchariot, Matthäus am ſechsundzwanzigſten! Er hatte dadurch ſeine Zuhörer in große Aufregung verſetzt, die ſich ängſt¬ lich nach dem Zielpunkte dieſer Anſpielung umſahen, und ſich, ſagte Fräulein Amantia, faſt wie ſeiner Zeit die Jünger fragten: „Herr, wer iſt es, der Dich verräth?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/321
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/321>, abgerufen am 28.03.2024.