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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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hangener Grat. Hinter dem Joche, das sie verband,
braute sich das Gewitter und drängte seine leise donnern¬
den Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell
ein entfernteres Schneehaupt auftauchte.

Zur Rechten des Wanderers maskirten die Berge
der andern Thalwand jene steile Felstreppe, die fast
plötzlich durch ein tief eingeschnittenes Thal aus der
leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt.
Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde herauf¬
gejagt, die schwülen Dünste wie ein Nebelrauch hervor
über die feuchten Wiesen von Baselgia Maria, dessen
weiße Thürme hinter einem Regenschleier kaum noch
sichtbar waren.

Jetzt erreichte der Saumpfad das erste Engadinerdorf,
eine Gasse fester Häuser, die mit ihren Strebepfeilern und
vergitterten Fensterluken kleinen Festungen glichen. Aber
der junge Zürcher klopfte an keine der schweren Holz¬
thüren, sondern beschloß trotz der Dämmerstunde auf
der Thalstraße längs der Seen rüstig südwärts zu
schreiten. Sein Vorsatz war, im Hospiz der Maloja
zu nächtigen, um in der Frühe des nächsten Tages über
den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn
-- Herr Pompejus hatte es errathen -- es verlangte
ihn, und jetzt mehr als je, seinen Schulfreund Jenatsch
zu umarmen.

hangener Grat. Hinter dem Joche, das ſie verband,
braute ſich das Gewitter und drängte ſeine leiſe donnern¬
den Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell
ein entfernteres Schneehaupt auftauchte.

Zur Rechten des Wanderers maskirten die Berge
der andern Thalwand jene ſteile Felstreppe, die faſt
plötzlich durch ein tief eingeſchnittenes Thal aus der
leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt.
Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde herauf¬
gejagt, die ſchwülen Dünſte wie ein Nebelrauch hervor
über die feuchten Wieſen von Baſelgia Maria, deſſen
weiße Thürme hinter einem Regenſchleier kaum noch
ſichtbar waren.

Jetzt erreichte der Saumpfad das erſte Engadinerdorf,
eine Gaſſe feſter Häuſer, die mit ihren Strebepfeilern und
vergitterten Fenſterluken kleinen Feſtungen glichen. Aber
der junge Zürcher klopfte an keine der ſchweren Holz¬
thüren, ſondern beſchloß trotz der Dämmerſtunde auf
der Thalſtraße längs der Seen rüſtig ſüdwärts zu
ſchreiten. Sein Vorſatz war, im Hoſpiz der Maloja
zu nächtigen, um in der Frühe des nächſten Tages über
den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn
— Herr Pompejus hatte es errathen — es verlangte
ihn, und jetzt mehr als je, ſeinen Schulfreund Jenatſch
zu umarmen.

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[29/0039] hangener Grat. Hinter dem Joche, das ſie verband, braute ſich das Gewitter und drängte ſeine leiſe donnern¬ den Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell ein entfernteres Schneehaupt auftauchte. Zur Rechten des Wanderers maskirten die Berge der andern Thalwand jene ſteile Felstreppe, die faſt plötzlich durch ein tief eingeſchnittenes Thal aus der leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt. Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde herauf¬ gejagt, die ſchwülen Dünſte wie ein Nebelrauch hervor über die feuchten Wieſen von Baſelgia Maria, deſſen weiße Thürme hinter einem Regenſchleier kaum noch ſichtbar waren. Jetzt erreichte der Saumpfad das erſte Engadinerdorf, eine Gaſſe feſter Häuſer, die mit ihren Strebepfeilern und vergitterten Fenſterluken kleinen Feſtungen glichen. Aber der junge Zürcher klopfte an keine der ſchweren Holz¬ thüren, ſondern beſchloß trotz der Dämmerſtunde auf der Thalſtraße längs der Seen rüſtig ſüdwärts zu ſchreiten. Sein Vorſatz war, im Hoſpiz der Maloja zu nächtigen, um in der Frühe des nächſten Tages über den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn — Herr Pompejus hatte es errathen — es verlangte ihn, und jetzt mehr als je, ſeinen Schulfreund Jenatſch zu umarmen.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/39>, abgerufen am 20.04.2024.