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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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lieben, und freute sich, wenn er bald von diesem,
bald von jenem angelächelt, oder angeredet wurde.
Besonders nahm der ehrwürdige Vater Anton, ne-
ben dem er saß, seine ganze Seele ein, denn er
sah wie ein Apostel aus, und begegnete seinem Va-
ter mit der treuherzigsten Liebe.

Wie lange sind Sie nun, sagte dieser zu dem
eisgrauen Pater Gregor, der die zwote Stelle an der
Tafel einnahm, hier im Kloster? Vier u. funfzig Jah-
re sinds, Gottlob! antwortete Gregor, daß ich von
der Welt mich abgesondert habe, und hier im Klo-
ster meinem Gott diene, und dem Tod entgegen
sehe. Jn meinem zwanzigsten Jahre that ich Pro-
feß, und seitdem weiß ich von der bösen Welt nichts
mehr. Jch bin niemals krank gewesen, aber nun
fühl ichs, daß mein ende nahe ist. Es sind mir so
viele vorgegangen, von denen ich geglaubt habe,
daß sie mich begraben würden: endlich muß die
Reihe doch auch an mich kommen. Die nächste
Leiche wird wol mir gelten, meine Brüder! und
hier sah er alle, heiterlächelnd, an. Das wolle
Gott nicht, sprachen die Paters einmüthig; nein,
das wolle Gott nicht, daß wir dich so bald verlie-
ren! Der alte Mann sah mit einem Blick gen
Himmel, und wischte sich die Augen. Nun ward



lieben, und freute ſich, wenn er bald von dieſem,
bald von jenem angelaͤchelt, oder angeredet wurde.
Beſonders nahm der ehrwuͤrdige Vater Anton, ne-
ben dem er ſaß, ſeine ganze Seele ein, denn er
ſah wie ein Apoſtel aus, und begegnete ſeinem Va-
ter mit der treuherzigſten Liebe.

Wie lange ſind Sie nun, ſagte dieſer zu dem
eisgrauen Pater Gregor, der die zwote Stelle an der
Tafel einnahm, hier im Kloſter? Vier u. funfzig Jah-
re ſinds, Gottlob! antwortete Gregor, daß ich von
der Welt mich abgeſondert habe, und hier im Klo-
ſter meinem Gott diene, und dem Tod entgegen
ſehe. Jn meinem zwanzigſten Jahre that ich Pro-
feß, und ſeitdem weiß ich von der boͤſen Welt nichts
mehr. Jch bin niemals krank geweſen, aber nun
fuͤhl ichs, daß mein ende nahe iſt. Es ſind mir ſo
viele vorgegangen, von denen ich geglaubt habe,
daß ſie mich begraben wuͤrden: endlich muß die
Reihe doch auch an mich kommen. Die naͤchſte
Leiche wird wol mir gelten, meine Bruͤder! und
hier ſah er alle, heiterlaͤchelnd, an. Das wolle
Gott nicht, ſprachen die Paters einmuͤthig; nein,
das wolle Gott nicht, daß wir dich ſo bald verlie-
ren! Der alte Mann ſah mit einem Blick gen
Himmel, und wiſchte ſich die Augen. Nun ward

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[15/0019] lieben, und freute ſich, wenn er bald von dieſem, bald von jenem angelaͤchelt, oder angeredet wurde. Beſonders nahm der ehrwuͤrdige Vater Anton, ne- ben dem er ſaß, ſeine ganze Seele ein, denn er ſah wie ein Apoſtel aus, und begegnete ſeinem Va- ter mit der treuherzigſten Liebe. Wie lange ſind Sie nun, ſagte dieſer zu dem eisgrauen Pater Gregor, der die zwote Stelle an der Tafel einnahm, hier im Kloſter? Vier u. funfzig Jah- re ſinds, Gottlob! antwortete Gregor, daß ich von der Welt mich abgeſondert habe, und hier im Klo- ſter meinem Gott diene, und dem Tod entgegen ſehe. Jn meinem zwanzigſten Jahre that ich Pro- feß, und ſeitdem weiß ich von der boͤſen Welt nichts mehr. Jch bin niemals krank geweſen, aber nun fuͤhl ichs, daß mein ende nahe iſt. Es ſind mir ſo viele vorgegangen, von denen ich geglaubt habe, daß ſie mich begraben wuͤrden: endlich muß die Reihe doch auch an mich kommen. Die naͤchſte Leiche wird wol mir gelten, meine Bruͤder! und hier ſah er alle, heiterlaͤchelnd, an. Das wolle Gott nicht, ſprachen die Paters einmuͤthig; nein, das wolle Gott nicht, daß wir dich ſo bald verlie- ren! Der alte Mann ſah mit einem Blick gen Himmel, und wiſchte ſich die Augen. Nun ward

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/19>, abgerufen am 29.03.2024.