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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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wird mir sie nicht übel nehmen! Mach Er die
Liebe nicht zur Haupttriebfeder seiner Handlun-
gen, und vergeß Er seine übrige Bestimmung nicht
drüber! Dieß ist der gewöhnliche Fehler bey jun-
gen Leuten. Sie glauben nur für ihr Mädchen
allein geschaffen zu seyn, und gegen die übrige
Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm
fürcht ich das nun weniger. Die Liebe sollte uns
am meisten zur Vervollkommung unsrer selbst an-
treiben. Denn je mehr Vorzüge und innre Voll-
kommenheiten wir haben, desto glücklicher können
wir einst den geliebten Gegenstand machen. Durch
Kenntnisse und Wissenschaften bahnen wir uns
den Weg zu Ehrenstellen, ansehnlichen Aemtern
und Besoldungen; und dann können wir erst mit
gutem Gewissen einem Frauenzimmer unsre Hand
anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le-
ben; aber es ist doch besser, wenn man zu allem
geschickt ist. Kronhelm dankte für den Rath, und
versprach, ihn zu besolgen. Er fühle sich jetzt,
sagte er, zu allem stärker; alles sey ihm leichter.
Er liebe die Menschen mehr. Sein Herz sey
weicher und mitleidiger geworden, und das Schick-
sal eines jeden Menschen, besonders eines leiden-
den lieg ihm weit näher am Herzen, als sonst.



wird mir ſie nicht uͤbel nehmen! Mach Er die
Liebe nicht zur Haupttriebfeder ſeiner Handlun-
gen, und vergeß Er ſeine uͤbrige Beſtimmung nicht
druͤber! Dieß iſt der gewoͤhnliche Fehler bey jun-
gen Leuten. Sie glauben nur fuͤr ihr Maͤdchen
allein geſchaffen zu ſeyn, und gegen die uͤbrige
Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm
fuͤrcht ich das nun weniger. Die Liebe ſollte uns
am meiſten zur Vervollkommung unſrer ſelbſt an-
treiben. Denn je mehr Vorzuͤge und innre Voll-
kommenheiten wir haben, deſto gluͤcklicher koͤnnen
wir einſt den geliebten Gegenſtand machen. Durch
Kenntniſſe und Wiſſenſchaften bahnen wir uns
den Weg zu Ehrenſtellen, anſehnlichen Aemtern
und Beſoldungen; und dann koͤnnen wir erſt mit
gutem Gewiſſen einem Frauenzimmer unſre Hand
anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le-
ben; aber es iſt doch beſſer, wenn man zu allem
geſchickt iſt. Kronhelm dankte fuͤr den Rath, und
verſprach, ihn zu beſolgen. Er fuͤhle ſich jetzt,
ſagte er, zu allem ſtaͤrker; alles ſey ihm leichter.
Er liebe die Menſchen mehr. Sein Herz ſey
weicher und mitleidiger geworden, und das Schick-
ſal eines jeden Menſchen, beſonders eines leiden-
den lieg ihm weit naͤher am Herzen, als ſonſt.

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[438/0018] wird mir ſie nicht uͤbel nehmen! Mach Er die Liebe nicht zur Haupttriebfeder ſeiner Handlun- gen, und vergeß Er ſeine uͤbrige Beſtimmung nicht druͤber! Dieß iſt der gewoͤhnliche Fehler bey jun- gen Leuten. Sie glauben nur fuͤr ihr Maͤdchen allein geſchaffen zu ſeyn, und gegen die uͤbrige Welt weiter keine Pflicht zu haben. Bey Jhm fuͤrcht ich das nun weniger. Die Liebe ſollte uns am meiſten zur Vervollkommung unſrer ſelbſt an- treiben. Denn je mehr Vorzuͤge und innre Voll- kommenheiten wir haben, deſto gluͤcklicher koͤnnen wir einſt den geliebten Gegenſtand machen. Durch Kenntniſſe und Wiſſenſchaften bahnen wir uns den Weg zu Ehrenſtellen, anſehnlichen Aemtern und Beſoldungen; und dann koͤnnen wir erſt mit gutem Gewiſſen einem Frauenzimmer unſre Hand anbieten. Er kann zwar auch ohne Aemter le- ben; aber es iſt doch beſſer, wenn man zu allem geſchickt iſt. Kronhelm dankte fuͤr den Rath, und verſprach, ihn zu beſolgen. Er fuͤhle ſich jetzt, ſagte er, zu allem ſtaͤrker; alles ſey ihm leichter. Er liebe die Menſchen mehr. Sein Herz ſey weicher und mitleidiger geworden, und das Schick- ſal eines jeden Menſchen, beſonders eines leiden- den lieg ihm weit naͤher am Herzen, als ſonſt.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/18>, abgerufen am 29.03.2024.