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Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838.

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Nicht wahr, mit Schwärmen und mit Plaudern
Verbrächte gern mein Freund die Nacht?
Doch flecht' ich still, und ohne Zaudern
Sey du mir auf ein Lied bedacht!
Sieh, wo das Dörflein mit der Spitze
Des gelben Thurms herüberschaut,
Dort schlummert auf dem Elternsitze
Noch wenig Nächte eine Braut.
Sie schläft. Der Wange Rosen beben,
Wir beide ahnen wohl, wovon;
Um die halb offne Lippe schweben
Die Träume glühnder Küsse schon.
Nicht doch! mit lauten Herzensschlägen
Hört sie vielleicht der Glocken Klang,
Hört am Altar den Vatersegen
Und eines Engels Brautgesang.
Sieht unter Weinen sich umschlungen
Von Mutter-Lieb', von Schwester-Treu',
Das Herz von Lust und Schmerz gedrungen,
Macht sich mit tausend Thränen frei.
Und alle diese sel'gen Träume,
Der nächste Morgen macht sie wahr;
Es stehen schon des Hauses Räume
Geschmückt für froher Gäste Schaar.
Nicht wahr, mit Schwaͤrmen und mit Plaudern
Verbraͤchte gern mein Freund die Nacht?
Doch flecht' ich ſtill, und ohne Zaudern
Sey du mir auf ein Lied bedacht!
Sieh, wo das Doͤrflein mit der Spitze
Des gelben Thurms heruͤberſchaut,
Dort ſchlummert auf dem Elternſitze
Noch wenig Naͤchte eine Braut.
Sie ſchlaͤft. Der Wange Roſen beben,
Wir beide ahnen wohl, wovon;
Um die halb offne Lippe ſchweben
Die Traͤume gluͤhnder Kuͤſſe ſchon.
Nicht doch! mit lauten Herzensſchlaͤgen
Hoͤrt ſie vielleicht der Glocken Klang,
Hoͤrt am Altar den Vaterſegen
Und eines Engels Brautgeſang.
Sieht unter Weinen ſich umſchlungen
Von Mutter-Lieb', von Schweſter-Treu',
Das Herz von Luſt und Schmerz gedrungen,
Macht ſich mit tauſend Thraͤnen frei.
Und alle dieſe ſel'gen Traͤume,
Der naͤchſte Morgen macht ſie wahr;
Es ſtehen ſchon des Hauſes Raͤume
Geſchmuͤckt fuͤr froher Gaͤſte Schaar.
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[55/0071] Nicht wahr, mit Schwaͤrmen und mit Plaudern Verbraͤchte gern mein Freund die Nacht? Doch flecht' ich ſtill, und ohne Zaudern Sey du mir auf ein Lied bedacht! Sieh, wo das Doͤrflein mit der Spitze Des gelben Thurms heruͤberſchaut, Dort ſchlummert auf dem Elternſitze Noch wenig Naͤchte eine Braut. Sie ſchlaͤft. Der Wange Roſen beben, Wir beide ahnen wohl, wovon; Um die halb offne Lippe ſchweben Die Traͤume gluͤhnder Kuͤſſe ſchon. Nicht doch! mit lauten Herzensſchlaͤgen Hoͤrt ſie vielleicht der Glocken Klang, Hoͤrt am Altar den Vaterſegen Und eines Engels Brautgeſang. Sieht unter Weinen ſich umſchlungen Von Mutter-Lieb', von Schweſter-Treu', Das Herz von Luſt und Schmerz gedrungen, Macht ſich mit tauſend Thraͤnen frei. Und alle dieſe ſel'gen Traͤume, Der naͤchſte Morgen macht ſie wahr; Es ſtehen ſchon des Hauſes Raͤume Geſchmuͤckt fuͤr froher Gaͤſte Schaar.

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Gedichte. Stuttgart, 1838, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_gedichte_1838/71>, abgerufen am 24.04.2024.