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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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sehr, man möge das Mädchen ja nicht irre machen in
diesen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß
sie nur ernste traurige Lieder zu kennen scheine? "Der
Henker weiß," war die Antwort, "woher sie all das
Zeug herkriegt; sie war von Kindheit auf ein närrisches
Ding, nicht auch lustig und rasch wie die andere Ju-
gend, aber fleißig und verständig, und besorgt mir Alles
in der Haushaltung seit ihrer Mutter Tod." Da der
Alte sofort über den Verlust seiner Frau, deren Tu-
gend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglich-
sten Klagen ausbrach, auch zulezt immer wärmer und
aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebschaft seines
Kindes auseinander zu setzen anfing, konnte man leicht
bemerken, wie angreifend solche Dinge auf Nolten
wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink
gab. Endlich schied der Bildhauer mit ungewissem be-
klommenen Herzen. Er eilte, nachdem er sich zuvor
das bewußte Manuscript verschafft, allein aus dem Ge-
räusche der Stadt, einen selten betretenen Weg verfol-
gend. Ein warmer, sonnenheller Tag schmolz vollends
die lezten Reste Schnee und Eis hinweg, eine erqui-
ckende Luft schmeichelte bereits mit Vorgefühlen des
Frühlings. So gelangt unser ernster Fußgänger, eh'
er sich's versah, in die ländlichste Umgebung, ein freund-
liches Dorf lacht ihm entgegen. Dort sucht er nach
einem stillen Garten hinter dem nächsten besten Wirths-
hause und findet auch bald ein hübsches erhöhtes Plätz-
chen zwischen Weinbergen mit Tisch und Bank, von wo

ſehr, man möge das Mädchen ja nicht irre machen in
dieſen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß
ſie nur ernſte traurige Lieder zu kennen ſcheine? „Der
Henker weiß,“ war die Antwort, „woher ſie all das
Zeug herkriegt; ſie war von Kindheit auf ein närriſches
Ding, nicht auch luſtig und raſch wie die andere Ju-
gend, aber fleißig und verſtändig, und beſorgt mir Alles
in der Haushaltung ſeit ihrer Mutter Tod.“ Da der
Alte ſofort über den Verluſt ſeiner Frau, deren Tu-
gend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglich-
ſten Klagen ausbrach, auch zulezt immer wärmer und
aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebſchaft ſeines
Kindes auseinander zu ſetzen anfing, konnte man leicht
bemerken, wie angreifend ſolche Dinge auf Nolten
wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink
gab. Endlich ſchied der Bildhauer mit ungewiſſem be-
klommenen Herzen. Er eilte, nachdem er ſich zuvor
das bewußte Manuſcript verſchafft, allein aus dem Ge-
räuſche der Stadt, einen ſelten betretenen Weg verfol-
gend. Ein warmer, ſonnenheller Tag ſchmolz vollends
die lezten Reſte Schnee und Eis hinweg, eine erqui-
ckende Luft ſchmeichelte bereits mit Vorgefühlen des
Frühlings. So gelangt unſer ernſter Fußgänger, eh’
er ſich’s verſah, in die ländlichſte Umgebung, ein freund-
liches Dorf lacht ihm entgegen. Dort ſucht er nach
einem ſtillen Garten hinter dem nächſten beſten Wirths-
hauſe und findet auch bald ein hübſches erhöhtes Plätz-
chen zwiſchen Weinbergen mit Tiſch und Bank, von wo

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[276/0284] ſehr, man möge das Mädchen ja nicht irre machen in dieſen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß ſie nur ernſte traurige Lieder zu kennen ſcheine? „Der Henker weiß,“ war die Antwort, „woher ſie all das Zeug herkriegt; ſie war von Kindheit auf ein närriſches Ding, nicht auch luſtig und raſch wie die andere Ju- gend, aber fleißig und verſtändig, und beſorgt mir Alles in der Haushaltung ſeit ihrer Mutter Tod.“ Da der Alte ſofort über den Verluſt ſeiner Frau, deren Tu- gend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglich- ſten Klagen ausbrach, auch zulezt immer wärmer und aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebſchaft ſeines Kindes auseinander zu ſetzen anfing, konnte man leicht bemerken, wie angreifend ſolche Dinge auf Nolten wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink gab. Endlich ſchied der Bildhauer mit ungewiſſem be- klommenen Herzen. Er eilte, nachdem er ſich zuvor das bewußte Manuſcript verſchafft, allein aus dem Ge- räuſche der Stadt, einen ſelten betretenen Weg verfol- gend. Ein warmer, ſonnenheller Tag ſchmolz vollends die lezten Reſte Schnee und Eis hinweg, eine erqui- ckende Luft ſchmeichelte bereits mit Vorgefühlen des Frühlings. So gelangt unſer ernſter Fußgänger, eh’ er ſich’s verſah, in die ländlichſte Umgebung, ein freund- liches Dorf lacht ihm entgegen. Dort ſucht er nach einem ſtillen Garten hinter dem nächſten beſten Wirths- hauſe und findet auch bald ein hübſches erhöhtes Plätz- chen zwiſchen Weinbergen mit Tiſch und Bank, von wo

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/284>, abgerufen am 19.04.2024.