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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832.

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man die angenehmste Aussicht hat. Er bestellt eine
Flasche Wein, sezt sich und holt jene Schrift hervor,
deren Inhalt wir dem Leser nicht vorenthalten
können.


Ein Tag aus Noltens Jugendleben.

Die Zeit war wieder erschienen, wo der sechs-
zehnjährige Theobald von der Schule der Haupt-
stadt aus die Seinigen auf zwei Wochen besuchen durfte.
In dem Pfarrhause zu Wolfsbühl war daher gegen-
wärtig große Freude, denn Vater und Schwestern (die
Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blü-
henden Menschen mit ganzem Herzen. Ein besonders
inniges Verhältniß fand aber zwischen Adelheid und
dem nur wenig jüngern Bruder Statt. Sie hatten
ihre eigenen Gegenstände der Unterhaltung, worein
sonst Niemand eingeweiht werden konnte; sie hatten
hundert kleine Geheimnisse, ja zuweilen ihre einige
Sprache. Es beruhte dieß zarte Einverständniß vor-
nämlich auf einer gleichartigen Phantasie, welche in
den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines
mährchenreichen, fast abergläubischen Dorfes und einer
merkwürdigen Gegend die erste Nahrung empfangen
und sich nach und nach auf eine eigenthümliche und
sehr gereinigte Weise ihren bestimmten Kreis gezogen
hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugend-

man die angenehmſte Ausſicht hat. Er beſtellt eine
Flaſche Wein, ſezt ſich und holt jene Schrift hervor,
deren Inhalt wir dem Leſer nicht vorenthalten
können.


Ein Tag aus Noltens Jugendleben.

Die Zeit war wieder erſchienen, wo der ſechs-
zehnjährige Theobald von der Schule der Haupt-
ſtadt aus die Seinigen auf zwei Wochen beſuchen durfte.
In dem Pfarrhauſe zu Wolfsbühl war daher gegen-
wärtig große Freude, denn Vater und Schweſtern (die
Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blü-
henden Menſchen mit ganzem Herzen. Ein beſonders
inniges Verhältniß fand aber zwiſchen Adelheid und
dem nur wenig jüngern Bruder Statt. Sie hatten
ihre eigenen Gegenſtände der Unterhaltung, worein
ſonſt Niemand eingeweiht werden konnte; ſie hatten
hundert kleine Geheimniſſe, ja zuweilen ihre einige
Sprache. Es beruhte dieß zarte Einverſtändniß vor-
nämlich auf einer gleichartigen Phantaſie, welche in
den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines
mährchenreichen, faſt abergläubiſchen Dorfes und einer
merkwürdigen Gegend die erſte Nahrung empfangen
und ſich nach und nach auf eine eigenthümliche und
ſehr gereinigte Weiſe ihren beſtimmten Kreis gezogen
hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugend-

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[277/0285] man die angenehmſte Ausſicht hat. Er beſtellt eine Flaſche Wein, ſezt ſich und holt jene Schrift hervor, deren Inhalt wir dem Leſer nicht vorenthalten können. Ein Tag aus Noltens Jugendleben. Die Zeit war wieder erſchienen, wo der ſechs- zehnjährige Theobald von der Schule der Haupt- ſtadt aus die Seinigen auf zwei Wochen beſuchen durfte. In dem Pfarrhauſe zu Wolfsbühl war daher gegen- wärtig große Freude, denn Vater und Schweſtern (die Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blü- henden Menſchen mit ganzem Herzen. Ein beſonders inniges Verhältniß fand aber zwiſchen Adelheid und dem nur wenig jüngern Bruder Statt. Sie hatten ihre eigenen Gegenſtände der Unterhaltung, worein ſonſt Niemand eingeweiht werden konnte; ſie hatten hundert kleine Geheimniſſe, ja zuweilen ihre einige Sprache. Es beruhte dieß zarte Einverſtändniß vor- nämlich auf einer gleichartigen Phantaſie, welche in den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines mährchenreichen, faſt abergläubiſchen Dorfes und einer merkwürdigen Gegend die erſte Nahrung empfangen und ſich nach und nach auf eine eigenthümliche und ſehr gereinigte Weiſe ihren beſtimmten Kreis gezogen hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugend-

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 1. Stuttgart, 1832, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten01_1832/285>, abgerufen am 28.03.2024.