Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueber die verfeinerte Begriffe.
worinn der Pfarrer, welcher ein sehr vernünftiger Mann
war, dem Müller würklich Recht gab, ob er gleich dafür
hielt, daß er selbst gegen die von demselben angegebene
Regel nicht gefehlt, und seiner Gemeine etwas vorgetra-
gen hätte, das ihren Begriffen nicht angemessen gewesen
wäre. Wie aber ein Wort so das andre holte: so kamen
wir endlich auf die jetzt allgemein herrschende Verfeinerung
der Begriffe, und auf die Frage: ob solche nicht in ihrer
Art ein eben solches Uebel, als die weiland beliebte Em-
pfindsamkeit werden würde? Und Sie wollten es nicht
billigen, hob der Pfarrer an, wenn unsre Philosophen in
das innerste der Natur dringen, jeden Begriff bis in seine
Quelle verfolgen, hier die würkenden Kräfte aufsucher,
solche mit Namen bezeichnen und das Unsichtbare der Na-
tur gleichsam zum Anschauen bringen? Sie wollten es
nicht gut finden, daß unsre Physiognomisten in unendli-
chen bisher unbemerkten Zügen die Abdrücke unsers Cha-
racters finden, und damit unser Erkenntniß bereichern,
daß unsre Psychologisten alle Töne und Kräfte der Seele
unterscheiden, und den Maaßstab ans Unendliche legen,
und daß endlich unsre Sittenlehrer die unzähligen Wen-
dungen des menschlichen Herzens in Klassen ordnen, und
die chaotische Masse der dunkeln Begriffe zu lauter deutli-
chen erheben?

Das kann ich freylich wohl nicht mißbilligen, war mei-
ne Antwort, so lange solches für Bauverständige und nicht
für solche geschieht, die nun endlich das Mehl erwarten,
ohne sich um die Nüsse, Poller und Splinten zu beküm-
mern. Aber mich dünkt, die wenigsten unter den Schrift-
stellern, welche jetzt für das Publicum schreiben, beweisen
diese Mäßigung. Auch die besten unter ihnen schreiben
nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte sind nach
ihrer zu scharfen Einsicht gestimmt, ihre Begriffe sind zu

tief
Mös. patr. Phant. III. Th. R

Ueber die verfeinerte Begriffe.
worinn der Pfarrer, welcher ein ſehr vernuͤnftiger Mann
war, dem Muͤller wuͤrklich Recht gab, ob er gleich dafuͤr
hielt, daß er ſelbſt gegen die von demſelben angegebene
Regel nicht gefehlt, und ſeiner Gemeine etwas vorgetra-
gen haͤtte, das ihren Begriffen nicht angemeſſen geweſen
waͤre. Wie aber ein Wort ſo das andre holte: ſo kamen
wir endlich auf die jetzt allgemein herrſchende Verfeinerung
der Begriffe, und auf die Frage: ob ſolche nicht in ihrer
Art ein eben ſolches Uebel, als die weiland beliebte Em-
pfindſamkeit werden wuͤrde? Und Sie wollten es nicht
billigen, hob der Pfarrer an, wenn unſre Philoſophen in
das innerſte der Natur dringen, jeden Begriff bis in ſeine
Quelle verfolgen, hier die wuͤrkenden Kraͤfte aufſucher,
ſolche mit Namen bezeichnen und das Unſichtbare der Na-
tur gleichſam zum Anſchauen bringen? Sie wollten es
nicht gut finden, daß unſre Phyſiognomiſten in unendli-
chen bisher unbemerkten Zuͤgen die Abdruͤcke unſers Cha-
racters finden, und damit unſer Erkenntniß bereichern,
daß unſre Pſychologiſten alle Toͤne und Kraͤfte der Seele
unterſcheiden, und den Maaßſtab ans Unendliche legen,
und daß endlich unſre Sittenlehrer die unzaͤhligen Wen-
dungen des menſchlichen Herzens in Klaſſen ordnen, und
die chaotiſche Maſſe der dunkeln Begriffe zu lauter deutli-
chen erheben?

Das kann ich freylich wohl nicht mißbilligen, war mei-
ne Antwort, ſo lange ſolches fuͤr Bauverſtaͤndige und nicht
fuͤr ſolche geſchieht, die nun endlich das Mehl erwarten,
ohne ſich um die Nuͤſſe, Poller und Splinten zu bekuͤm-
mern. Aber mich duͤnkt, die wenigſten unter den Schrift-
ſtellern, welche jetzt fuͤr das Publicum ſchreiben, beweiſen
dieſe Maͤßigung. Auch die beſten unter ihnen ſchreiben
nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte ſind nach
ihrer zu ſcharfen Einſicht geſtimmt, ihre Begriffe ſind zu

tief
Moͤſ. patr. Phant. III. Th. R
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0271" n="257"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ueber die verfeinerte Begriffe.</hi></fw><lb/>
worinn der Pfarrer, welcher ein &#x017F;ehr vernu&#x0364;nftiger Mann<lb/>
war, dem Mu&#x0364;ller wu&#x0364;rklich Recht gab, ob er gleich dafu&#x0364;r<lb/>
hielt, daß er &#x017F;elb&#x017F;t gegen die von dem&#x017F;elben angegebene<lb/>
Regel nicht gefehlt, und &#x017F;einer Gemeine etwas vorgetra-<lb/>
gen ha&#x0364;tte, das ihren Begriffen nicht angeme&#x017F;&#x017F;en gewe&#x017F;en<lb/>
wa&#x0364;re. Wie aber ein Wort &#x017F;o das andre holte: &#x017F;o kamen<lb/>
wir endlich auf die jetzt allgemein herr&#x017F;chende Verfeinerung<lb/>
der Begriffe, und auf die Frage: ob &#x017F;olche nicht in ihrer<lb/>
Art ein eben &#x017F;olches Uebel, als die weiland beliebte Em-<lb/>
pfind&#x017F;amkeit werden wu&#x0364;rde? Und Sie wollten es nicht<lb/>
billigen, hob der Pfarrer an, wenn un&#x017F;re Philo&#x017F;ophen in<lb/>
das inner&#x017F;te der Natur dringen, jeden Begriff bis in &#x017F;eine<lb/>
Quelle verfolgen, hier die wu&#x0364;rkenden Kra&#x0364;fte auf&#x017F;ucher,<lb/>
&#x017F;olche mit Namen bezeichnen und das Un&#x017F;ichtbare der Na-<lb/>
tur gleich&#x017F;am zum An&#x017F;chauen bringen? Sie wollten es<lb/>
nicht gut finden, daß un&#x017F;re Phy&#x017F;iognomi&#x017F;ten in unendli-<lb/>
chen bisher unbemerkten Zu&#x0364;gen die Abdru&#x0364;cke un&#x017F;ers Cha-<lb/>
racters finden, und damit un&#x017F;er Erkenntniß bereichern,<lb/>
daß un&#x017F;re P&#x017F;ychologi&#x017F;ten alle To&#x0364;ne und Kra&#x0364;fte der Seele<lb/>
unter&#x017F;cheiden, und den Maaß&#x017F;tab ans Unendliche legen,<lb/>
und daß endlich un&#x017F;re Sittenlehrer die unza&#x0364;hligen Wen-<lb/>
dungen des men&#x017F;chlichen Herzens in Kla&#x017F;&#x017F;en ordnen, und<lb/>
die chaoti&#x017F;che Ma&#x017F;&#x017F;e der dunkeln Begriffe zu lauter deutli-<lb/>
chen erheben?</p><lb/>
        <p>Das kann ich freylich wohl nicht mißbilligen, war mei-<lb/>
ne Antwort, &#x017F;o lange &#x017F;olches fu&#x0364;r Bauver&#x017F;ta&#x0364;ndige und nicht<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;olche ge&#x017F;chieht, die nun endlich das Mehl erwarten,<lb/>
ohne &#x017F;ich um die <hi rendition="#fr">Nu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, Poller</hi> und <hi rendition="#fr">Splinten</hi> zu beku&#x0364;m-<lb/>
mern. Aber mich du&#x0364;nkt, die wenig&#x017F;ten unter den Schrift-<lb/>
&#x017F;tellern, welche jetzt fu&#x0364;r das Publicum &#x017F;chreiben, bewei&#x017F;en<lb/>
die&#x017F;e Ma&#x0364;ßigung. Auch die be&#x017F;ten unter ihnen &#x017F;chreiben<lb/>
nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte &#x017F;ind nach<lb/>
ihrer zu &#x017F;charfen Ein&#x017F;icht ge&#x017F;timmt, ihre Begriffe &#x017F;ind zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Mo&#x0364;&#x017F;. patr. Phant.</hi><hi rendition="#aq">III.</hi><hi rendition="#fr">Th.</hi> R</fw><fw place="bottom" type="catch">tief</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0271] Ueber die verfeinerte Begriffe. worinn der Pfarrer, welcher ein ſehr vernuͤnftiger Mann war, dem Muͤller wuͤrklich Recht gab, ob er gleich dafuͤr hielt, daß er ſelbſt gegen die von demſelben angegebene Regel nicht gefehlt, und ſeiner Gemeine etwas vorgetra- gen haͤtte, das ihren Begriffen nicht angemeſſen geweſen waͤre. Wie aber ein Wort ſo das andre holte: ſo kamen wir endlich auf die jetzt allgemein herrſchende Verfeinerung der Begriffe, und auf die Frage: ob ſolche nicht in ihrer Art ein eben ſolches Uebel, als die weiland beliebte Em- pfindſamkeit werden wuͤrde? Und Sie wollten es nicht billigen, hob der Pfarrer an, wenn unſre Philoſophen in das innerſte der Natur dringen, jeden Begriff bis in ſeine Quelle verfolgen, hier die wuͤrkenden Kraͤfte aufſucher, ſolche mit Namen bezeichnen und das Unſichtbare der Na- tur gleichſam zum Anſchauen bringen? Sie wollten es nicht gut finden, daß unſre Phyſiognomiſten in unendli- chen bisher unbemerkten Zuͤgen die Abdruͤcke unſers Cha- racters finden, und damit unſer Erkenntniß bereichern, daß unſre Pſychologiſten alle Toͤne und Kraͤfte der Seele unterſcheiden, und den Maaßſtab ans Unendliche legen, und daß endlich unſre Sittenlehrer die unzaͤhligen Wen- dungen des menſchlichen Herzens in Klaſſen ordnen, und die chaotiſche Maſſe der dunkeln Begriffe zu lauter deutli- chen erheben? Das kann ich freylich wohl nicht mißbilligen, war mei- ne Antwort, ſo lange ſolches fuͤr Bauverſtaͤndige und nicht fuͤr ſolche geſchieht, die nun endlich das Mehl erwarten, ohne ſich um die Nuͤſſe, Poller und Splinten zu bekuͤm- mern. Aber mich duͤnkt, die wenigſten unter den Schrift- ſtellern, welche jetzt fuͤr das Publicum ſchreiben, beweiſen dieſe Maͤßigung. Auch die beſten unter ihnen ſchreiben nicht mehr vor das gemeine Auge, ihre Worte ſind nach ihrer zu ſcharfen Einſicht geſtimmt, ihre Begriffe ſind zu tief Moͤſ. patr. Phant. III. Th. R

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Für das DTA wurde die „Neue verbesserte und verme… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/271
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/271>, abgerufen am 28.03.2024.