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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

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Vor die Empfindsamen.
in dem Herrn sanft und selig entschlief: so weinte sie über
ein ganzes Jahr, und noch rollen ihr die Thränen von den
Wangen, wenn von der lieben Großmamma gesprochen wird.
So oft ich einem Täubgen den Hals umdrehe, oder einer
Endte den Kopf abhacke, girrt und winselt sie mir die Oh-
ren so voll, daß ich mir nicht getraue ihr unter die Augen
zu gehen. Dabey ist sie so schreckhaft, daß der geringste
Schein eines Unglücks sie ganz ausser sich setzt Vorigen
Winter als das Feuer aus der Ofenröhre die Tapeten in
ihrem Schlafzimmer ergriffen hatte, wäre sie beynahe auf-
gebrannt. Sie lag ohnmächtig in ihrem Bette, dessen
Vorhänge die Flammen bereits ergriffen hatten. Ihr jüng-
ster Bruder fiel unlängst in den Bach, der vor unserm
Hause vorbeyfließt; und sie stand dabey wie eine Säule,
ohne auch nur einmal ein Geschrey zu seiner Rettung zu
machen. Ihr ältester Bruder ist nach Amerika abgereiset,
und nun wehet kein Wind, der ihr nicht durchs Herz ge-
het; sie zittert bey jeder Post, und ließt auf jedem Gesichte
traurige Nachrichten. Aber ihre Zärtlichkeit geht über alles;
ihre Sinnen sind so verfeinert, daß sie aus der ganzen
Natur nichts wie den flüchtigsten Duft genießet. Gehe
ich mit ihr des Abends in den Mondenschein: so hört sie
nichts als das Säuseln der Zephire, das Gelispel der Blät-
ter, und das Rieseln unsers von ihr sogenannten Silber-
bachs. Da singt ihr die Nachtigall so süß, die Aepfelblü-
ten düften ihr so sanft, und der Abend erscheinet ihr so Won-
nevoll, daß ich oft befürchte, sie thauet mir unter den Hän-
den weg, und fließt mit dem Silberbach in die elyseischen
Felder.

Mich ergötzen der Gesang der Vögel, das Grün der
Felder, und die Blumen der Bäume zwar auch; aber mein
ganzes Herz wird dadurch gestärkt; es öfnet sich dem mäch-
tigen Danke für alles Gute was ich empfinde, für den Se-

gen

Vor die Empfindſamen.
in dem Herrn ſanft und ſelig entſchlief: ſo weinte ſie uͤber
ein ganzes Jahr, und noch rollen ihr die Thraͤnen von den
Wangen, wenn von der lieben Großmamma geſprochen wird.
So oft ich einem Taͤubgen den Hals umdrehe, oder einer
Endte den Kopf abhacke, girrt und winſelt ſie mir die Oh-
ren ſo voll, daß ich mir nicht getraue ihr unter die Augen
zu gehen. Dabey iſt ſie ſo ſchreckhaft, daß der geringſte
Schein eines Ungluͤcks ſie ganz auſſer ſich ſetzt Vorigen
Winter als das Feuer aus der Ofenroͤhre die Tapeten in
ihrem Schlafzimmer ergriffen hatte, waͤre ſie beynahe auf-
gebrannt. Sie lag ohnmaͤchtig in ihrem Bette, deſſen
Vorhaͤnge die Flammen bereits ergriffen hatten. Ihr juͤng-
ſter Bruder fiel unlaͤngſt in den Bach, der vor unſerm
Hauſe vorbeyfließt; und ſie ſtand dabey wie eine Saͤule,
ohne auch nur einmal ein Geſchrey zu ſeiner Rettung zu
machen. Ihr aͤlteſter Bruder iſt nach Amerika abgereiſet,
und nun wehet kein Wind, der ihr nicht durchs Herz ge-
het; ſie zittert bey jeder Poſt, und ließt auf jedem Geſichte
traurige Nachrichten. Aber ihre Zaͤrtlichkeit geht uͤber alles;
ihre Sinnen ſind ſo verfeinert, daß ſie aus der ganzen
Natur nichts wie den fluͤchtigſten Duft genießet. Gehe
ich mit ihr des Abends in den Mondenſchein: ſo hoͤrt ſie
nichts als das Saͤuſeln der Zephire, das Geliſpel der Blaͤt-
ter, und das Rieſeln unſers von ihr ſogenannten Silber-
bachs. Da ſingt ihr die Nachtigall ſo ſuͤß, die Aepfelbluͤ-
ten duͤften ihr ſo ſanft, und der Abend erſcheinet ihr ſo Won-
nevoll, daß ich oft befuͤrchte, ſie thauet mir unter den Haͤn-
den weg, und fließt mit dem Silberbach in die elyſeiſchen
Felder.

Mich ergoͤtzen der Geſang der Voͤgel, das Gruͤn der
Felder, und die Blumen der Baͤume zwar auch; aber mein
ganzes Herz wird dadurch geſtaͤrkt; es oͤfnet ſich dem maͤch-
tigen Danke fuͤr alles Gute was ich empfinde, fuͤr den Se-

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[60/0074] Vor die Empfindſamen. in dem Herrn ſanft und ſelig entſchlief: ſo weinte ſie uͤber ein ganzes Jahr, und noch rollen ihr die Thraͤnen von den Wangen, wenn von der lieben Großmamma geſprochen wird. So oft ich einem Taͤubgen den Hals umdrehe, oder einer Endte den Kopf abhacke, girrt und winſelt ſie mir die Oh- ren ſo voll, daß ich mir nicht getraue ihr unter die Augen zu gehen. Dabey iſt ſie ſo ſchreckhaft, daß der geringſte Schein eines Ungluͤcks ſie ganz auſſer ſich ſetzt Vorigen Winter als das Feuer aus der Ofenroͤhre die Tapeten in ihrem Schlafzimmer ergriffen hatte, waͤre ſie beynahe auf- gebrannt. Sie lag ohnmaͤchtig in ihrem Bette, deſſen Vorhaͤnge die Flammen bereits ergriffen hatten. Ihr juͤng- ſter Bruder fiel unlaͤngſt in den Bach, der vor unſerm Hauſe vorbeyfließt; und ſie ſtand dabey wie eine Saͤule, ohne auch nur einmal ein Geſchrey zu ſeiner Rettung zu machen. Ihr aͤlteſter Bruder iſt nach Amerika abgereiſet, und nun wehet kein Wind, der ihr nicht durchs Herz ge- het; ſie zittert bey jeder Poſt, und ließt auf jedem Geſichte traurige Nachrichten. Aber ihre Zaͤrtlichkeit geht uͤber alles; ihre Sinnen ſind ſo verfeinert, daß ſie aus der ganzen Natur nichts wie den fluͤchtigſten Duft genießet. Gehe ich mit ihr des Abends in den Mondenſchein: ſo hoͤrt ſie nichts als das Saͤuſeln der Zephire, das Geliſpel der Blaͤt- ter, und das Rieſeln unſers von ihr ſogenannten Silber- bachs. Da ſingt ihr die Nachtigall ſo ſuͤß, die Aepfelbluͤ- ten duͤften ihr ſo ſanft, und der Abend erſcheinet ihr ſo Won- nevoll, daß ich oft befuͤrchte, ſie thauet mir unter den Haͤn- den weg, und fließt mit dem Silberbach in die elyſeiſchen Felder. Mich ergoͤtzen der Geſang der Voͤgel, das Gruͤn der Felder, und die Blumen der Baͤume zwar auch; aber mein ganzes Herz wird dadurch geſtaͤrkt; es oͤfnet ſich dem maͤch- tigen Danke fuͤr alles Gute was ich empfinde, fuͤr den Se- gen

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/74>, abgerufen am 28.03.2024.