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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Von der Gewohnheit des jüdischen Volks
mochte auch Pilatus jetzt etwas zum Vortheil Christi wa-
gen wollen; weil die Juden Christum zuletzt eines Staats-
verbrechens beschuldigten, und zu jenen sagten: läßt du
diesen los: so bist du des Kaysers Freund nicht. Aber
darum bleibt es doch ein richtiger Satz, daß das Volk
am Osterfeste das Recht hatte die Loslassung eines Ge-
fangenen zu fordern; und hiezu weiß ich keinen bessern
Grund als obiges Temperament unterzulegen.

Zwar könnte man annehmen, daß diese Loslassung
zum Andenken seiner Loslassung aus der Egyptischen Scla-
verey, welche auch um Ostern erfolgte, eingeführt sey.
Man könnte weiter annehmen, daß auch das Osterfest
die Epoque seiner Befreyung aus der Babilonischen Ge-
fangenschaft gewesen sey. Allein da man es nicht so leicht
annehmen kann, daß das Volk unter seinen Richtern,
Priestern und Königen ein gleiches Recht gehabt habe:
so scheinet dieses nicht wahrscheinlich zu seyn; obgleich
die Römer, welche den überwundenen Völkern ihren
Gottesdienst, ihre Gesetze und ihre Gewohnheiten gern
gönneten, auch in diesem Fall jenes Recht der Osterbitte
verehret haben würden. Denn wäre es zum Andenken
der Erlösung aus Egypten eingeführt: so würden sich da-
von ältere Spuren und wahrscheinlich auch eine Mosal-
sche Verordnung finden.

Es ist übrigens kein Volk bekannt, was auf diese
Art das Begnadigungsrecht ausgeübt hatte. Burnaby
erzählt von Rhode Jßland, daß das dortige Volk solches
an sich genommen hätte, und von andern Staaten weiß
man, daß das Volk sich jedes Urtheil über Leib und Le-
ben vorbehalten und solchergestalt was diese beyde Punkte
anlangt, die richtende und gesetzgebende Gewalt wider-
natürlich vereinigt habe; so war es bey den alten Deut-

schen.

Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks
mochte auch Pilatus jetzt etwas zum Vortheil Chriſti wa-
gen wollen; weil die Juden Chriſtum zuletzt eines Staats-
verbrechens beſchuldigten, und zu jenen ſagten: laͤßt du
dieſen los: ſo biſt du des Kayſers Freund nicht. Aber
darum bleibt es doch ein richtiger Satz, daß das Volk
am Oſterfeſte das Recht hatte die Loslaſſung eines Ge-
fangenen zu fordern; und hiezu weiß ich keinen beſſern
Grund als obiges Temperament unterzulegen.

Zwar koͤnnte man annehmen, daß dieſe Loslaſſung
zum Andenken ſeiner Loslaſſung aus der Egyptiſchen Scla-
verey, welche auch um Oſtern erfolgte, eingefuͤhrt ſey.
Man koͤnnte weiter annehmen, daß auch das Oſterfeſt
die Epoque ſeiner Befreyung aus der Babiloniſchen Ge-
fangenſchaft geweſen ſey. Allein da man es nicht ſo leicht
annehmen kann, daß das Volk unter ſeinen Richtern,
Prieſtern und Koͤnigen ein gleiches Recht gehabt habe:
ſo ſcheinet dieſes nicht wahrſcheinlich zu ſeyn; obgleich
die Roͤmer, welche den uͤberwundenen Voͤlkern ihren
Gottesdienſt, ihre Geſetze und ihre Gewohnheiten gern
goͤnneten, auch in dieſem Fall jenes Recht der Oſterbitte
verehret haben wuͤrden. Denn waͤre es zum Andenken
der Erloͤſung aus Egypten eingefuͤhrt: ſo wuͤrden ſich da-
von aͤltere Spuren und wahrſcheinlich auch eine Moſal-
ſche Verordnung finden.

Es iſt uͤbrigens kein Volk bekannt, was auf dieſe
Art das Begnadigungsrecht ausgeuͤbt hatte. Burnaby
erzaͤhlt von Rhode Jßland, daß das dortige Volk ſolches
an ſich genommen haͤtte, und von andern Staaten weiß
man, daß das Volk ſich jedes Urtheil uͤber Leib und Le-
ben vorbehalten und ſolchergeſtalt was dieſe beyde Punkte
anlangt, die richtende und geſetzgebende Gewalt wider-
natuͤrlich vereinigt habe; ſo war es bey den alten Deut-

ſchen.
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[142/0154] Von der Gewohnheit des juͤdiſchen Volks mochte auch Pilatus jetzt etwas zum Vortheil Chriſti wa- gen wollen; weil die Juden Chriſtum zuletzt eines Staats- verbrechens beſchuldigten, und zu jenen ſagten: laͤßt du dieſen los: ſo biſt du des Kayſers Freund nicht. Aber darum bleibt es doch ein richtiger Satz, daß das Volk am Oſterfeſte das Recht hatte die Loslaſſung eines Ge- fangenen zu fordern; und hiezu weiß ich keinen beſſern Grund als obiges Temperament unterzulegen. Zwar koͤnnte man annehmen, daß dieſe Loslaſſung zum Andenken ſeiner Loslaſſung aus der Egyptiſchen Scla- verey, welche auch um Oſtern erfolgte, eingefuͤhrt ſey. Man koͤnnte weiter annehmen, daß auch das Oſterfeſt die Epoque ſeiner Befreyung aus der Babiloniſchen Ge- fangenſchaft geweſen ſey. Allein da man es nicht ſo leicht annehmen kann, daß das Volk unter ſeinen Richtern, Prieſtern und Koͤnigen ein gleiches Recht gehabt habe: ſo ſcheinet dieſes nicht wahrſcheinlich zu ſeyn; obgleich die Roͤmer, welche den uͤberwundenen Voͤlkern ihren Gottesdienſt, ihre Geſetze und ihre Gewohnheiten gern goͤnneten, auch in dieſem Fall jenes Recht der Oſterbitte verehret haben wuͤrden. Denn waͤre es zum Andenken der Erloͤſung aus Egypten eingefuͤhrt: ſo wuͤrden ſich da- von aͤltere Spuren und wahrſcheinlich auch eine Moſal- ſche Verordnung finden. Es iſt uͤbrigens kein Volk bekannt, was auf dieſe Art das Begnadigungsrecht ausgeuͤbt hatte. Burnaby erzaͤhlt von Rhode Jßland, daß das dortige Volk ſolches an ſich genommen haͤtte, und von andern Staaten weiß man, daß das Volk ſich jedes Urtheil uͤber Leib und Le- ben vorbehalten und ſolchergeſtalt was dieſe beyde Punkte anlangt, die richtende und geſetzgebende Gewalt wider- natuͤrlich vereinigt habe; ſo war es bey den alten Deut- ſchen.

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/154>, abgerufen am 28.03.2024.