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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786.

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Ein kleiner Umstand thut oft vieles
zu nennen beliebt hatte: so verlohr ich mich, und glaubte
zu träumen. Meine ganze Eigenliebe empörte sich gegen
meine Leichtsinnigkeit, und ich konnte nicht begreifen, wie
ich bey dem großen Verstande, womit ich mir vorhin ge-
schmeichelt hatte, so tief hätte fallen können. Jch fand
auch nicht ein bißgen Großes in meinem ganzen Verhal-
ten gegen den Angrif des Grafen, -- nichts womit ich
mich in meinem Gewissen hätte zieren können. Diese
grausame Erniedrigung, die ich so ganz fühlte, preßte
mir die bittersten Zähren aus; ich konnte mich in meinen
eignen Gedanken nicht wieder zu meiner vorigen Größe
erheben, und schämte mich vor meinem Anblick. Hun-
dert Einfälle liefen mir durch den Kopf, ich verknüpfte
meine ehmaligen hohen Grundsätze von der Tugend mit
denjenigen, so ich künftig ausüben wollte, um das Ge-
genwärtige zu vergessen, aber vergebens. Mit einer
herzlichen Reue und mit dem festen Vorsatze mich zu bes-
sern, konnte ich mein Gewissen, aber nicht meine Eigen-
liebe beruhigen.

Sie können leicht denken, daß ich des andern Mor-
gens nicht recht wohl war; ich hatte Befehl gegeben kei-
nen ausser dem Grafen, wenn er kommen würde, vor-
zulassen, und wie er erschien; so vermochte ich auch nicht
einen Blick auf ihn zu werfen. Er mochte dieses zu sei-
nem Vortheil auslegen; denn er setzte sich neben mir,
ergriff meine Hand, und drückte sie mit aller Glut eines
Liebhabers an seine Lippen. Aber hier erwachte ich
und .... O! ich kann Jhnen, liebste Freundinn! nicht
alles sagen, was mein Herz vorbrachte. Es waren keine
Vorwürfe, denn diese verdiente ich allein, es war das
ganze Gefühl meiner Schmach, welches ich ihm schil-
derte, und so lebhaft, so aufrichtig schilderte, daß er meine
Hand fallen ließ, und zuletzt den Augenblick verwünschte,

wel-
E 3

Ein kleiner Umſtand thut oft vieles
zu nennen beliebt hatte: ſo verlohr ich mich, und glaubte
zu traͤumen. Meine ganze Eigenliebe empoͤrte ſich gegen
meine Leichtſinnigkeit, und ich konnte nicht begreifen, wie
ich bey dem großen Verſtande, womit ich mir vorhin ge-
ſchmeichelt hatte, ſo tief haͤtte fallen koͤnnen. Jch fand
auch nicht ein bißgen Großes in meinem ganzen Verhal-
ten gegen den Angrif des Grafen, — nichts womit ich
mich in meinem Gewiſſen haͤtte zieren koͤnnen. Dieſe
grauſame Erniedrigung, die ich ſo ganz fuͤhlte, preßte
mir die bitterſten Zaͤhren aus; ich konnte mich in meinen
eignen Gedanken nicht wieder zu meiner vorigen Groͤße
erheben, und ſchaͤmte mich vor meinem Anblick. Hun-
dert Einfaͤlle liefen mir durch den Kopf, ich verknuͤpfte
meine ehmaligen hohen Grundſaͤtze von der Tugend mit
denjenigen, ſo ich kuͤnftig ausuͤben wollte, um das Ge-
genwaͤrtige zu vergeſſen, aber vergebens. Mit einer
herzlichen Reue und mit dem feſten Vorſatze mich zu beſ-
ſern, konnte ich mein Gewiſſen, aber nicht meine Eigen-
liebe beruhigen.

Sie koͤnnen leicht denken, daß ich des andern Mor-
gens nicht recht wohl war; ich hatte Befehl gegeben kei-
nen auſſer dem Grafen, wenn er kommen wuͤrde, vor-
zulaſſen, und wie er erſchien; ſo vermochte ich auch nicht
einen Blick auf ihn zu werfen. Er mochte dieſes zu ſei-
nem Vortheil auslegen; denn er ſetzte ſich neben mir,
ergriff meine Hand, und druͤckte ſie mit aller Glut eines
Liebhabers an ſeine Lippen. Aber hier erwachte ich
und .... O! ich kann Jhnen, liebſte Freundinn! nicht
alles ſagen, was mein Herz vorbrachte. Es waren keine
Vorwuͤrfe, denn dieſe verdiente ich allein, es war das
ganze Gefuͤhl meiner Schmach, welches ich ihm ſchil-
derte, und ſo lebhaft, ſo aufrichtig ſchilderte, daß er meine
Hand fallen ließ, und zuletzt den Augenblick verwuͤnſchte,

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[69/0081] Ein kleiner Umſtand thut oft vieles zu nennen beliebt hatte: ſo verlohr ich mich, und glaubte zu traͤumen. Meine ganze Eigenliebe empoͤrte ſich gegen meine Leichtſinnigkeit, und ich konnte nicht begreifen, wie ich bey dem großen Verſtande, womit ich mir vorhin ge- ſchmeichelt hatte, ſo tief haͤtte fallen koͤnnen. Jch fand auch nicht ein bißgen Großes in meinem ganzen Verhal- ten gegen den Angrif des Grafen, — nichts womit ich mich in meinem Gewiſſen haͤtte zieren koͤnnen. Dieſe grauſame Erniedrigung, die ich ſo ganz fuͤhlte, preßte mir die bitterſten Zaͤhren aus; ich konnte mich in meinen eignen Gedanken nicht wieder zu meiner vorigen Groͤße erheben, und ſchaͤmte mich vor meinem Anblick. Hun- dert Einfaͤlle liefen mir durch den Kopf, ich verknuͤpfte meine ehmaligen hohen Grundſaͤtze von der Tugend mit denjenigen, ſo ich kuͤnftig ausuͤben wollte, um das Ge- genwaͤrtige zu vergeſſen, aber vergebens. Mit einer herzlichen Reue und mit dem feſten Vorſatze mich zu beſ- ſern, konnte ich mein Gewiſſen, aber nicht meine Eigen- liebe beruhigen. Sie koͤnnen leicht denken, daß ich des andern Mor- gens nicht recht wohl war; ich hatte Befehl gegeben kei- nen auſſer dem Grafen, wenn er kommen wuͤrde, vor- zulaſſen, und wie er erſchien; ſo vermochte ich auch nicht einen Blick auf ihn zu werfen. Er mochte dieſes zu ſei- nem Vortheil auslegen; denn er ſetzte ſich neben mir, ergriff meine Hand, und druͤckte ſie mit aller Glut eines Liebhabers an ſeine Lippen. Aber hier erwachte ich und .... O! ich kann Jhnen, liebſte Freundinn! nicht alles ſagen, was mein Herz vorbrachte. Es waren keine Vorwuͤrfe, denn dieſe verdiente ich allein, es war das ganze Gefuͤhl meiner Schmach, welches ich ihm ſchil- derte, und ſo lebhaft, ſo aufrichtig ſchilderte, daß er meine Hand fallen ließ, und zuletzt den Augenblick verwuͤnſchte, wel- E 3

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/81>, abgerufen am 29.03.2024.